Die Veranstaltung hatte den Titel
„Falsche Erinnerungen an sexuellen Missbrauch durch »aufdeckende« Therapien“
und diente zur Information für professionell in Psychiatrie/Psychotherapie, Sozialhilfe, Polizei und Rechtsprechung Tätige.
Sie fand am 13.04.2016 im Dorint-Hotel in Halle (Saale) statt.
Hier finden Sie das Tagungsprogramm. Die Referenten können als absolut kompetente Experten für ihr jeweiliges Fachgebiet gelten.
Frau Gisela Klein zum Thema „Polygraphische Methode zur Wahrheitsfindung“
Die Reihe der Vorträge begann mit der Vorstellung der polygraphischen Methode durch Frau Dipl. Psych. Gisela Klein, Fachpsychologin für Rechtspsychologie, Lehrbeauftragte für Rechtspsychologie an der Universität zu Köln. Die Methode wird oft, aber sehr irreführend, als Lügendetektor bezeichnet. Es handelt sich nämlich keineswegs um eine technische Methode, um Lügen zu entdecken, und das ist nach heutigem Wissen auch unmöglich.
Die polygraphische Methode wird im Ausland, insbesondere in den USA, vielfach eingesetzt, ist aber in Deutschland wissenschaftlich umstritten. Der BGH hält sie als Beweismittel für ungeeignet. Nichtsdestoweniger haben in den letzten Jahren mehrere Gerichte nach dieser Methode durchgeführte freiwillige Tests in ihren Urteilsbegründungen als entlastend verwertet.
Frau Klein erstellt vor allem aussagepsychologische Gutachten, setzt sich aber sehr dafür ein, dass die polygraphische Methode als Beweismethode Anerkennung findet. Es ist für zu Unrecht Beschuldigte häufig die einzig mögliche Methode, aktiv zur Wahrheitsfindung beizutragen. Frau Klein hält sie für zuverlässiger, als die verbreitete aussagenpychologische Methode, die auf die Aussagen von Opferzeugen angewandt wird. Gerade für auf Grund falscher Erinnerungen an sexuellen Missbrauch Beschuldigte ist das von großer Bedeutung.
Die Methode macht Gebrauch davon, dass Fragen, die den Befragten emotional betreffen, physiologische Reaktionen, z. B. Änderungen der Atem- und Pulsfrequenz, des Blutdrucks und des Hautwiderstands hervorrufen, die vom Befragten nicht willentlich gesteuert oder beeinflusst werden können. Sie zeigen Erregung an, werden aber nur aussagekräftig, wenn geeignete Fragen gestellt werden.
Dafür gibt es prinzipiell zwei Frage-Schemata. Beim Tatwissenstest werden physiologische Reaktionen untersucht, die bei Fragen auftauchen, zu denen nur der Tatbeteiligte etwas wissen kann. Dieser Test gilt zwar als sehr zuverlässig, hat aber in der Praxis wenig Bedeutung, weil bei gerichtlichen Verfahren alle derartigen Fragen in der Ermittlungsphase ausführlich diskutiert werden und daher dem Befragten in jedem Falle bekannt sein können. Die zweite Methode, die meist Verwendung findet, ist der Vergleichsfragentest. Der beruht darauf, dass neben Fragen zur eigentlichen Tat andere Fragen gestellt werden, die mit der Tat gar nichts zu tun haben, aber zu einer emotionalen Erregung beim Befragten führen. Dabei geht man davon aus, dass die Reaktion wirklicher Täter auf Tatfragen weit stärker sind, als auf Vergleichsfragen, während der an der Tat nicht Beteiligte stärker auf die Vergleichsfragen reagiert.
Frau Klein stellte dar, wie das Fragenprogramm, das letztlich für den Test benutzt wird, nach genauen formalen Regeln zusammen mit dem Befragten entwickelt wird. Dabei werden dem Befragten keine Fragen gestellt, die er nicht vorher kennt. Der Test geht davon aus, dass die physiologischen Reaktionen trotzdem dem Einfluss des Befragten nicht unterliegen.
Herr Jürgen Voß zum Thema „Multiple Persönlichkeitsstörung als Folge sexuellen Missbrauchs? Betrachtungen aus Sicht des Opferentschädigungsgesetzes“
Als Leiter des Versorgungsamts Hannover hatte Herr Voß die Aufgabe, eine Reihe von Anträgen auf Opferentschädigung zu entscheiden. Es handelte sich um Fälle sogenannter „multipler Persönlichkeiten“ mit sehr ähnlicher Symptomatik, bei denen die behandelnden PsychotherapeutInnen für die von ihnen Therapierten Antrag auf Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz gestellt hatten, meist um bei ausgeschöpftem Budget der von den Krankenkassen übernommenen Therapiekosten eine Fortführung der Therapie zu ermöglichen.
Obwohl selbstverständlich jeder Fall einzeln untersucht und beurteilt werden musste, stellte sich dabei doch ein verblüffende Menge an Parallelitäten zwischen den Fällen heraus. In allen Fällen handelte es sich um Personen, die als Erwachsene eine Therapie aufgenommen hatten, und bei denen erst im Laufe der Therapie eine Erinnerung an sexuellen Missbrauch in der Kindheit auftauchte. Dabei wurden von den AntragstellerInnen häufig Erinnerungen an sexuellen Missbrauch im Zeitraum der kindlichen Amnesie angegeben, eine Aussage, die von Haus aus zeigt, dass es sich nicht um erlebnisbasierte Erinnerungen handelt. Auch die Eigenschaft der Dissoziation in viele Innenpersonen lag in keinem Fall als Diagnose am Beginn der Therapien vor, sondern hatte sich erst im Laufe der Therapie entwickelt. Die Therapieprotokolle zeigten, dass die Erinnerungen erst langsam im Lauf der Zeit auftauchten, dann aber immer mehr und immer bizarrer wurden. So wurde angegeben, dass die Antragstellerinnen an satanische Kulte und Sexringe vermietet oder verkauft wurden, es wurden Erinnerungen an rituelle Kindstötungen etc. berichtet.
In keinem einzigen Fall konnten Nachweise der behaupteten Vorgänge geliefert werden, und es war auch seitens der TherapeutInnen niemals versucht worden, Tatsachen-Informationen einzuholen. Regelmäßig war in der Therapie aus den Symptomen ein Trauma als Ursache geschlossen worden, eine nach dem heutigen wissenschaftlichen Stand unzulässige Schlussweise.
Der Referent war in sämtlichen Fällen bereits aufgrund seiner Fallrecherchen zu dem Ergebnis gekommen, dass die Aussagen zu den behaupteten Missbrauchstatbeständen als unglaubhaft anzusehen und daher die Anträge abzulehnen waren. In einem Einzelfall wurde der Antrag auf Opferentschädigung positiv entschieden, und zwar nach Aussage des Referenten gegen seinen Willen auf höhere Weisung. Aussagepsychologische Gutachten waren nicht erforderlich. Aufgrund seiner Recherchen kommt er zu dem Ergebnis, dass die diagnostizierten „multiplen Persönlichkeiten“ auf iatrogene Entstehung hinweisen.
Herr Dr. Thomas Simmich zum Thema „Wenn Erinnerungen an psychotraumatische Erfahrungen während psychotherapeutischer Behandlungen auftauchen – gibt es eine Erinnerungsinduktion unter Psychotherapie?“
Herr Dr. Simmich ist Psychiater, Neurologe und Psychotherapeut. Sein sehr anspruchsvoller Vortrag ging an das Thema aus der Sicht des psychoanalytischen Psychotherapeuten heran und enthielt eine große Fülle an fachlichen Informationen. Diejenigen im Publikum, die mit psychoanalytischen und psychotherapeutischen Grundkonzepten und deren Terminologie nicht vertraut sind, waren damit vielfach überfordert.
Ausgehend von einem Fall von Falschbeschuldigung, an dem er selbst als Gutachter beteiligt war, wurde dargestellt, dass weder an der realen Existenz traumatisierenden Sexualerfahrungen, noch an der therapeutischen Enstehung von Erinnerungsverfälschungen der Erinnerungen an solche Ereignisse Zweifel bestehen. Diese sind mit einem (subjektiven) „Krankheitsgewinn“ verbunden. Systematische Untersuchungen dazu werden durch die Angst behindert, als Täterschützer zu erscheinen.
Der Referent sieht diese Vorgänge in engen Zusammenhang mit Entwicklungen der Diagnostik, die sich zunehmend von der Verbindung von Ursache und Wirkung hin zur alleinigen Berücksichtigung der Symptome als Diagnosekriterien entwickelt hat. Nach einem Exkurs zu der Entwicklung bei Sigmund Freud wurde diese Entwicklung der Diagnostik an der Diagnose der posttraumatischen Belastungsstörung aufgezeigt.
Diese enthält ja neben reinen Symptomkriterien noch ein Ursachenkriterium, nämlich die Existenz eines Traumas in der Vergangenheit. Wurden ursprünglich dabei extrem schwere traumatische Erlebnisse vorausgesetzt, so wurde dieses Kriterium zunehmend aufgeweicht. Dem trug die Definition der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung Rechnung, die auch subjektive Interpretatationen beliebiger Situationen als Traumata einschließt. Schließlich kommt es dann zu einer Umkehrung der Kausalität und Rückprojektion von Symptomen auf eine vermutete traumatische Ursache.
Verschiedene psychotherapeutische Arbeitsweisen wurden vom Referenten auf die damit verbundenen Gefahren der Erzeugung falscher Erinnerungen oder Fehlinterpration untersucht. Hypnose als Mittel der Erinnerungsarbeit wurde explizit abgelehnt. Dass ein Vergessen bei sexuellem Missbrauch vorkommt, ist erwiesen und auch dadurch zu erklären, dass viele Formen sexuellen Missbrauchs zum Zeitpunkt des Geschehens nicht als traumatisch empfunden werden. Es wurde festgestellt, dass vielfach Unklarheit über Einflussnahme in Psychotherapien herrscht, und dass es passieren kann, dass sich weder der Therapeut noch der Patient einer Suggestion bewusst sind.
Der Referent findet einen wesentlichen Unterschied zwischen der Situation in den USA und in Deutschland: In den USA seien die Ergebnisse der modernen Gedächtnisforschung weitgehend von Psychotherapeuten aufgenommen bzw. durch spektakuläre Gerichtsfälle eingefordert worden. In Deutschland besteht in dieser Hinsicht weiterhin Aufklärungsbedarf. Der Vortrag endete mit dem Aufruf, gemeinsam dafür zu sorgen, dass keine neuen Fälle therapieinduzierter falscher Erinnerungen entstehen.
Herr Professor Dr. Max Steller zum Thema „Erinnerungsarbeit: Die Verschleierung der Wahrheit“
Herr Prof. Steller ist forensischer Psychologe und gehört zu den Begründern einer modernen Aussagepsychologie, die in Deutschland der internationalen Entwicklung vorauslief und deren Methoden von Deutschland aus erst in die USA übernommen kamen. Sein 2015 erschienenes Buch „Nichts als die Wahrheit: Warum jeder unschuldig verurteilt werden kann“ hat ein sehr starkes Echo in der Öffentlichkeit gefunden und die Diskussion über zu Unrecht Beschuldigte angefacht.
Steller berichtete sehr locker über einige der vielen Fälle aus seiner Praxis. Fälle therapeutisch induzierter falscher Erinnerung haben sich erst in den letzten 20 Jahren gehäuft. In diesen Fällen ist der Opferzeuge ja selbst von der Wahrheit seiner Aussage überzeugt ist und lügt nicht bewusst. Die Methoden der Aussagepsychologie, soweit sie zur Erkennung bewusster Lügen entwickelt wurden, versagen daher hier. In diesem Fall ist es die Aufgabe des Sachverständigen, die Entstehung der Aussage zu verfolgen und eventuelle Widersprüche mit belegbaren Tatsachen aufzuzeigen.
Steller zuzuhören ist sehr interessant, und die von ihm präsentierten Fälle sind überzeugend. Manche der von ihm berichteten Fälle machen aber auch nachdenklich. Es sind diejenigen Fälle, in denen Aussagen nicht durch eine wissenschaftliche Systematik, sondern dadurch als Fantasieprodukt entlarvt werden konnten, weil es gelang, einen oft unscheinbaren sachlichen Widerspruch darin zu finden. Man fragt sich, wie eine lebhafte Aussage wohl beurteilt worden wäre, wenn darin nicht ein Kaufhaus Erwähnung gefunden hätte, das zu dem angegebenen Zeitpunkt noch nicht existierte. Es ist gut, zu wissen, dass auch in Fällen, in denen keine Widersprüche zu belegbaren Tatsachen auftauchen, es noch eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Kriterien gibt, die zumindest Zweifel an dem Erlebnishintergrund der Aussage begründen.
Abschließende Diskussion mit den Referenten
Die abschließende, sehr lebhafte Diskussion wurde beherrscht von der wissenschaftlichen Kontroverse über die Polygraphiemethode, die von Frau Klein propagiert, von Steller aber abgelehnt wird. Steller hat sich damit von früheren eigenen Veröffentlichungen distanziert. Simmich gab dazu den Kommentar, dass jeder Wissenschaftler das Recht und die Möglichkeit haben müsse, seine Meinung und Beruteilung zu ändern. In einem bemerkenswerten Diskussionsbeitrag beklagte eine psychotherapeutisch arbeitende Heilpraktikerin, dass die Ausbildung und Kenntnis wissenschaftlicher Grundlagen bei FachkollegInnen teilsweise erschreckend schlecht sei.
Tagungsprogramm:
13:00 Uhr
Eintreffen der Teilnehmer und Registrierung
13:30 Uhr
Begrüßung der Teilnehmer durch Dr. Hans Delfs, den Vorsitzenden von False Memory Deutschland e. V., und Vorstellung von Frau Rechtsanwältin Ute Galda, Dresden, die die Leitung der Veranstaltung als Moderatorin übernehmen wird.
13:40 Uhr
Gisela Klein, Köln, Fachpsychologin für Rechtspsychologie, Lehrbeauftragte für Rechtspsychologie an der Universität zu Köln: Vortrag zum Thema „Polygraphische Methode zur Wahrheitsfindung“.
14:30 Uhr
Jürgen Voß, Hannover, Leitender Regierungsrat a.D.: Vortrag zum Thema „Multiple Persönlichkeitsstörung als Folge sexuellen Missbrauchs? Betrachtungen aus Sicht des Opferentschädigungsgesetzes.“
15:20 Uhr
Kaffeepause
15:50 Uhr
Dr. med. Thomas Simmich, Dresden, Facharzt für Psychiatrie, Neurologie, psychosomatische Medizin und Psychotherapie: Vortrag zum Thema „Wenn Erinnerungen an psychotraumatische Erfahrungen während psychotherapeutischer Behandlungen auftauchen – gibt es eine Erinnerungsinduktion unter Psychotherapie?“
16:40 Uhr
Prof. Dr. Max Steller, Institut für forensische Psychiatrie, Charité Berlin: Vortrag zum Thema „Erinnerungsarbeit: Die Verschleierung der Wahrheit“
17:30 Uhr
Podiumsdiskussion mit den Referenten und Frau Heidemarie Cammans, stellvertretende Vorsitzende von False Memory Deutschland e. V. Diskussionsleitung Frau Ute Galda.