Referent: Prof. Dr. med. Hans Stoffels, Psychiater und Psychotherapeut, Chefarzt der Park-Klinik Sophie-Charlotte in Berlin
Im ersten Teil des Referats gab es eine allgemeine Einführung in „das trügerische Gedächtnis“. Im Hinblick auch auf das Modewort des letzten Jahres, was das Wort „postfaktisch“ war, ist die Möglichkeit genannt worden, dass das Problem Täuschung und Selbsttäuschung in der Zukunft zunehmen wird. Erinnerung ist wichtig für unsere Persönlichkeit. Aber: Erinnerung ist auch Gefährdung ausgesetzt.
Anhand von Beispielen aus Literatur und Medien wurde dargestellt, wie sich Ereignis-Wahrheit (tot, farblos, abstrakt, Summe von Fakten) und Erzähl-Wahrheit (lebendig, farbig, gefühlvoll, sinnerfüllt) zueinander verhalten und dass Erinnerung immer subjektiv ist. Vor allem dort, wo ein Vakuum ist, ist Phantasie sehr stark, und so füllt der Mensch mit Imaginationskraft das Vakuum.
Prof. Stoffels verwies auf die Arbeiten in der wissenschaftlichen Gedächtnisforschung am Beispiel des Experiments „lost in the mall“. Diese Experimente haben gezeigt, dass jemandem von außen eine Erinnerung induziert werden kann. In 20 – 30 % der Fälle wurde eine solche Erinnerung angenommen und somit zu einer echten Erinnerung für den Probanden. Vor allem äußerer und innerer Erwartungsdruck (Ehrgeiz) sind maßgeblich am Zustandekommen von falschen Erinnerungen beteiligt. Eine induzierte Erinnerung wird zur echten Erinnerung und Bestandteil der Persönlichkeit.
Anhand praktischer Übungen wurde demonstriert, wie fehlbar unsere Erinnerung ist. Da der Mensch alles in einem Sinnzusammenhang sieht, ist die Wahrnehmung oft anders als die Fakten. So wird manches übersehen, weil es der Betrachter im Moment der Wahrnehmung für unwesentlich erachtet. Auf der anderen Seite wird manches hinzugedacht, was in Wahrheit nicht vorhanden ist, aber für den Betrachter sinngemäß vorhanden sein müsste. Hierbei lässt sich auch unterscheiden zwischen bewussten Fälschungen, um etwas zu erreichen, und unbewussten Fälschungen.
Im dritten Teil ging es um die Entwicklungen in der Psychotherapie und die Trauma-Perspektive. In den letzten Jahren hat die Psychotherapie immer mehr Bedeutung erlangt, wobei es noch nicht ganz klar ist, ob psychische Erkrankungen tatsächlich so zugenommen haben oder, da weniger stigmatisiert, heute mehr behandelt werden. Die Anzahl der Psychotherapeuten hat sich in den letzten Jahren vervierfacht und es gibt eine Fülle von neuen Ausbildungsinstituten.
In der Psychotherapie gibt es verschiedene Richtungen, so z.B. die psychodynamische Psychotherapie, die Verhaltenstherapie, der familientherapeutische Ansatz. u.a. Noch relativ neu ist die Psycho-Traumatologie, die eine expansive Ausweitung erfahren hat. Ursprünglich ist diese aus der langjährigen psychotherapeutischen Behandlung von US-Soldaten des Vietnamkriegs heraus entstanden. Die in diesem Zusammenhang definierte Erkrankung der posttraumatischen Belastungsstörung nahm auf einmal einen großen Raum ein.
Anhand einer Bildergeschichte des französischen Comiczeichners Jean-Jaques Sempé wird dargestellt, wie einfach der Psychotherapeut für ein Problem des Patienten eine falsche Ursache feststellen und dies glaubhaft dem Patienten vermitteln kann. Es ist eine Grundsituation in der Psychotherapie, dass der Patient sehr schnell ein Gefühl dafür entwickelt, was der Therapeut hören will, wo es für den Therapeuten interessant wird. Beide, der Therapeut und der Patient, stehen in einer Beziehung. Durch diese Beziehung hat der Therapeut nicht die Freiheit, nicht suggestiv zu sein. Weiterhin geht der Therapeut bewusst oder unbewusst von Grundannahmen aus. Der Patient wiederum entwickelt ein Sensorium für die Grundannahmen des Therapeuten und sucht die Übereinstimmung zwischen sich und den Grundannahmen.
Mittlerweile gelten immer mehr Ereignisse als traumaverursachend. So ist es nicht verwunderlich, dass es bereits die Bezeichnung Traumaschwemme gibt. Vieles, was leicht abweichend vom normalen Leben ist, wird heutzutage schnell als traumaverursachend eingestuft.
Hilfreich ist es, zu verstehen, dass unterschiedliche Herangehensweisen des Therapeuten möglich sind. Bei deterministischem Vorgehen wird für eine seelische Störung ausschließlich ein erlebtes Trauma als Ursache angenommen. Im dialogischen Prinzip werden weitere Faktoren betrachtet, so auch die Biographie und die Persönlichkeit des Patienten.
So existiert folgender Leitsatz: „Ein Trauma ist aus dem Erleben erfassbar und Erleben aus dem Kontext der Persönlichkeitsstruktur.“ Therapeuten sind dazu angehalten, mit den Geschichten des Patienten mitzugehen und gleichzeitig auf Distanz zu sein. Es ist zu berücksichtigen, dass ein Trauma auch dazu dienen kann, sich mit den gegenwärtigen Problemen nicht weiter befassen zu müssen. Der Therapeut geht mit dem Patienten lediglich auf eine zeitlich begrenzte gemeinsame Reise. Dabei weiß der sorgfältige Therapeut vorher noch nicht, wohin diese Reise gehen wird.
Im Trauma liegt viel Suggestionskraft und Versuchung. Die komplexe Wirklichkeit kann einfach in Gut und Böse, Opfer und Täter, eingeteilt werden. Durch das Finden einer Universalursache für seine Probleme erfährt der Patient Entlastung. Traumaopfer erfahren Aufmerksamkeit und Zuwendung, eine Opfer-Identität bildet sich.
Auf Nachfrage nach der Verantwortung des Therapeuten gegenüber dem Patienten und seinem Umfeld, wenn es um historische Dinge geht, erfahren wir, dass es hier bei den Therapeuten eine gespaltene Meinung gibt. Für die eine Hälfte ist es wichtig, ob es real ist. Für die andere Hälfte spielt es keine Rolle, solange es dem Patienten hilft. Mittlerweile wird auch in Fachkreisen über Nebenwirkungen der Psychotherapie diskutiert. So ist u.a. erkannt worden, dass es bei Patienten durch die Gewöhnung der Kommunikation mit dem Therapeuten zu einer Entfremdung zu den Angehörigen kommen kann und dass induzierte Erinnerungen, False Memories, die Aufmerksamkeit des Psychotherapeuten erfordern.
Die Frage, die allen Teilnehmern am Herzen liegt, ist die: „Wie sind falsche Erinnerungen auflösbar?“ Erste spontane Aussage dazu ist, dass das nur gelingt, wenn der-/diejenige mit falschen Erinnerungen bereit ist zu akzeptieren, dass er/sie sich geirrt hat. Hilfreich könnte bei einer Auflösung eine Person sein, die nicht in der Feindprojektion ist.
Im weiteren Verlauf wurden viele Fragen gestellt, die Diskussion war lebhaft.
Professor Stoffels stellte abschließend fest, dass der Verein schon viel erreicht hat. Für ihn war es eine sehr interessante Erfahrung, diese Bündelung von solchen Fällen mit False Memories und die Art und Weise, wie hier in diesem Kreis offen damit umgegangen wird, zu erleben.