Vor einigen Jahren waren wir noch eine ganz normale Familie. Nun, was ist schon normal? Dass eine Familie zwei Töchter hat, die unterschiedlicher kaum sein könnten, ist sicher nichts Besonderes. Trotz des unterschiedlichen Charakters haben sich beide Schwestern immer gut verstanden und hatten viel Vertrauen zueinander.
Unsere Tochter Claudia, Mitte 20, ist ein recht ruhiger Typ, gutmütig und hilfsbereit. Ihr Studium hat sie zielstrebig hinter sich gebracht und ihre Arbeit macht ihr Freude. Sie lebt mit ihrem langjährigen Freund zusammen.
Marion, 2 Jahre jünger als Claudia, ist schon immer etwas keck, innerhalb der Familie sehr selbstbewusst, aber auch impulsiv und eigensinnig gewesen. Andererseits ist sie mitfühlend und sensibel. Ihre Berufswünsche wechselten häufig. Eine Ausbildung hat sie trotz gutem höherem Schulabschluss bisher noch nicht abgeschlossen.
Ich war manchmal gezwungen, etwas streng und konsequent mit ihr zu sein. Mein Mann hingegen war berufsbedingt viel außer Haus und hatte immer mehr Verständnis für ihre Eskapaden. Marion hatte es heraus, ihn um den Finger zu wickeln. Sie wurde von ihm, und im Grunde auch von der übrigen Familie, als Nesthäkchen verwöhnt.
Schon als Teenager rauchte sie – trotz Verbot, war gelegentlich stark betrunken und suchte Kontakt zu älteren Jungen, mit denen sie wilde Partys feierte. Im stark betrunkenem Zustand war es zweimal passiert, dass sie behauptete, der Vater würde sie anstarren und sie heimlich beobachten. Als sie wieder nüchtern war, stellte mein Mann sie zur Rede und wies diese Vorwürfe entschieden zurück. Sie wirkte verstört und entschuldigte sich dann etwas verschämt. Anschließend schien wieder alles in Ordnung. Für uns war Marion damals nur ein leicht verwirrter Teenager, der Schwierigkeiten hat, eine erwachsene Frau zu werden und den richtigen Weg zu finden. Das Verhältnis zum Vater blieb gut und unauffällig.
In ähnlichem Alter wurde ich auch einmal von ihr lautstark vulgär beschimpft, weil Marion den Eindruck hatte, dass ich ihre Brüste beim Umziehen anschaue. Nach einer Aussprache war zum damaligen Zeitpunkt vermeintlich wieder alles OK.
All dies blieben Einzelfälle, die den Familienfrieden nicht nachhaltig gestört haben und die uns auch nicht sehr – ja, viel zu wenig – beunruhigt haben. Nachträglich sehen wir: Das war ein Fehler. Wir hätten erkennen sollen, dass es bei Marion schon früh Auffälligkeiten gab. Es gab unbegründete Prüfungsängste, überraschende Wutausbrüche, plötzliche Kontaktabbrüche zu ihren besten Freundinnen, es hieß bei ihr immer „gut oder böse, schwarz oder weiß“.
Vor einigen Jahren begann etwas bei ihr aus dem Ruder zu laufen. Mit ihrem Freund geriet sie stark alkoholisiert in Streit. Marion lief weg und berichtete von einem versuchten sexuellen Übergriff durch einen fremden Mann. Alles war sehr unglaubhaft und stellte sich als ein Täuschungsmanöver heraus. Da es in der Vergangenheit bereits häufiger nach Alkoholkonsum (evtl. auch nach Cannabiskonsum?) Stress bei dem jungen Paar gab, wollte der Freund sich von ihr trennen. Marion antwortete mit einer Selbstmorddrohung und erregte sein Mitleid, indem sie ihm erzählte, sie sei als Kind immer wieder von ihrem Vater sexuell missbraucht worden.
Seitdem ist alles anders. Ihr Freund glaubte ihr sofort und bestand darauf, meinen Mann sofort bei der Polizei anzuzeigen. Ein von uns unmittelbar vorgeschlagenes Familiengespräch bei einem sozialpsychiatrischen Dienst ihrer Wahl wurde von beiden abgelehnt. Den Kontakt zu meinem Mann hat Marion abrupt abgebrochen, obwohl der immer gesprächsbereit war und immer noch ist. Auch ein freiwillig angebotenes Glaubwürdigkeitsgutachten von meinem Mann wurde abgelehnt. Ein loser Kontakt zu mir, den Großeltern und zu ihrer Schwester Claudia besteht noch, doch Marion ist sehr gekränkt, weil wir ihr nicht glauben. Ihr Freund, zu dem wir ein lockeres, aber gutes Verhältnis hatten, will überhaupt nicht mehr mit uns sprechen. Anscheinend ist er so ziemlich der Einzige, der ihre Beschuldigungen übernommen hat.
Neben unserer Familie haben wir noch einige sehr gute Freunde und enge Kollegen vertrauensvoll informiert. Ein einigermaßen erträglicher Alltag wäre sonst gar nicht mehr möglich gewesen. Alle sind von der Unschuld meines Mannes überzeugt und erschüttert, dass unsere Tochter keine Hilfe annehmen will.
Die Staatsanwaltschaft hat nach der Anzeige natürlich die Ermittlungen aufgenommen. Die ganze Familie befand sich in einem Schockzustand und alle waren mit der Situation komplett überfordert. Mein Mann und ich haben nur noch funktioniert und konnten teilweise gar nicht mehr klar denken. Auch dass meine Eltern und Schwiegereltern in ihrem hohen Alter noch so etwas mitmachen mussten, war ganz furchtbar für alle. Wir hatten das Glück, einen sehr guten und engagierten Verteidiger zu finden, der sofort ein aussagepsychologisches Gutachten beantragte. Der Gutachter stellte fest, die Aussagen unserer Tochter seien nicht schlüssig und nicht glaubwürdig. Ein Teil ihrer Behauptungen konnte nach den örtlichen Gegebenheiten nicht oder jedenfalls nicht so, wie von ihr berichtet, stattgefunden haben. Der Gutachter konnte Konfabulationen nicht ausschließen und stellte Züge einer Persönlichkeitsstörung/Borderlinestörung fest.
Das Ermittlungsverfahren gegen meinen Mann wurde daraufhin mangels Tatverdacht eingestellt und es kam nicht zum Prozess. Wie Marion und ihr Freund auf die Verfahrenseinstellung reagiert haben, wissen wir nicht. Es wurde nie mehr mit uns darüber gesprochen.
Wir fragen uns, ob Marion das, was sie gegen meinen Mann vorbringt, wirklich glaubt? Sind es vielleicht falsche Erinnerungen? Sie hatte als Teenager über Freunde engen Kontakt zu Mitarbeitern und Bewohnern einer psychiatrischen Klinik. Sollte sie dort beeinflusst worden sein? Evtl. hat sie auch als junges Mädchen ein unangenehmes Erlebnis mit einem Jungen gehabt, der mehr wollte als sie. Oder handelt es sich um Wahnvorstellungen, die für sie objektiven Charakter haben? Wir wissen es nicht.
Es könnte ja auch sein, dass sie sich bei dem Versuch, einen Ausweg aus einer schwierigen Situation zu finden, in etwas hineinmanövriert hat, aus dem sich jetzt nicht mehr ohne großen Gesichtsverlust herauskommt? Oder dass sie das, was ursprünglich nur ein rascher Ausweg war, inzwischen so verinnerlicht hat, dass sie es selbst glaubt? Wir haben manchmal das Gefühl, dass Marion ihre Familie und ihr altes Leben zugunsten ihres Freundes geopfert hat. Jedenfalls müssen wir das Ganze wohl im Zusammenhang mit der vom Gutachter festgestellten Borderlinestörung sehen.
Das heißt natürlich auch, dass Marion eine Psychotherapie machen müsste. Wie aber bringen wir sie dazu, eine Therapie aufzunehmen? Dazu müsste sie ja erst einmal so etwas wie Krankheitseinsicht haben, und das ist absolut nicht der Fall. Selbst, wenn sie zu dieser Einsicht kommen sollte, wie kann man sicher sein, dass sie nicht einen Therapeuten wählen würde, der sie noch in ihren falschen Erinnerungen bestärkt? Wir machen uns große Sorgen um sie und sind ratlos.
Natürlich steht Marion der Weg zurück in unsere Familie jederzeit offen und das weiß sie auch. Ob und wann das jedoch geschehen wird, ist ungewiss. Wir versuchen, den Kontakt zu ihr aufrechtzuerhalten, indem die Großeltern, Claudia und ich uns oberflächlich gelegentlich über allgemeine Sachen mit Marion austauschen. Dies klappt auch meistens. Auf vorsichtige Andeutungen, sich psychiatrische Hilfe zu suchen, reagiert Marion allerdings gleichgültig, manchmal beleidigt und abweisend. Wir verhalten uns bewusst so zurückhaltend, da wir Angst vor einem endgültigen Kontaktabbruch haben.
Auch für jemanden, der wie ich mit einer optimistischen Grundeinstellung lebt, ist das überhaupt nicht einfach. Irgendwie haben die Ereignisse der letzten Jahre uns einen Boden unter den Füßen weggezogen, der bis dahin selbstverständlich zu sein schien. Unsere Zukunft ist ungewiss. Wenn die Situation bei Marion und ihrem Freund einmal eskalieren sollte, wissen wir nicht, wie unsere Tochter reagieren würde. Dies alles ist sehr bedrückend für die ganze Familie und wir sind gezwungen, mit diesem Albtraum zu leben.
Bei der Caritas-Familienberatung, dem sozialpsychiatrischen Dienst und bei False Memory Deutschland haben wir uns beraten lassen und verständnisvolle Gesprächspartner gefunden, die uns sehr geholfen haben. Mit Arbeit, Sport und Unternehmungen mit Freunden versuchen wir, ins normale Leben zurückzufinden. Es ist schwer und immer noch sehr belastend, aber wir geben die Hoffnung nicht auf.
Vier Jahre nach diesem Bericht erreicht False Memory Deutschland ein Update dazu von Marions Mutter.
Im Verhältnis zu Marion gibt es keine auffälligen Verbesserungen. Es gibt zwar nach wie vor unregelmäßigen und lockeren Kontakt zur Mutter. Besser ist der Kontakt zur Schwester, mit der Marion sich gelegentlich trifft, aber ohne dass „kritische“ Themen angesprochen werden. Jeder Kontakt zum Vater, mit dem Marion seit Beginn der Vorwürfe niemals gesprochen hat, wird weiterhin kategorisch abgelehnt.
Wichtig in diesem Update sind zwei Dinge. Erstens geht man im weiteren Familien- und Freundeskreis mit dem Problem jetzt offen um und ist dabei auf viel Verständnis gestoßen. Das trägt zur Entspannung bei.
Das zweite ist, dass sich die Borderline-Problematik, bereits im ursprünglichen Bericht erwähnt, verschärft zeigt. Marions früherer Freund, der laut dem Bericht so wichtig war, dass sie auf dessen Trennungsabsichten mit Selbstmorddrohung reagierte, ist mitsamt dem gemeinsam angeschafften vielgeliebten Hund ganz plötzlich zur Unperson geworden. Jetzt hat sie einen neuen Freund. Ihre Berufsausbildung hat sie endlich abgeschlossen, doch wechselt sie immer wieder die Arbeitsstellen, und immer sind die anderen schuld.
Eigentlich müsste Marion wegen ihrer Borderline-Störung eine Psychotherapie machen, doch sie hat nach wie vor keinerlei Krankheitseinsicht. So bleibt der Familie nichts als abzuwarten.
Leben mit „Erinnerungen“ aus einer Terror-Psychotherapie⇒⇐Die Tragik falscher Erkenntnisse