Ich bin Diplompädagogin mit Schwerpunkt Pädagogik bei Verhaltensgestörten. Derzeit absolviere ich ein Aufbaustudium der Psychotherapie. Psychologische und psychotherapeutische Gedankengänge sind mir daher vertraut. Doch waren es keine psychischen Schwierigkeiten und auch nicht meine leicht depressiven Zustände im Zusammenhang mit Liebeskummer, die mich in eine Therapie führten.
Der Anlass war eine immer wiederkehrende Blasenentzündung, derentwegen ich im Dezember 2011 eine Heilpraktikerin, Frau S., aufsuchte. Ich kannte Frau S. von der „Lebensfreude“-Messe in Hamburg. Ich hatte sie dort bei einem Vortrag erlebt und fand sie sympathisch. Sie war eine Mittvierzigerin mit kurzen blonden Haaren und Brille, die sehr freundlich wirkte. Sie gab an, auch Schamanin zu sein. Ich hatte mich viel mit Esoterik beschäftigt und einen Glauben an „höhere Mächte“ entwickelt. Deshalb suchte ich ihre Anschrift im Internet.
Ich nannte ihr mein Problem, nämlich die Blasenentzündungen. Sie fragte gar nicht viel nach, sondern begann gleich, sich mit meinem „höheren Selbst“ zu verbinden. Dabei schlug sie auf eine Trommel. Ich sollte währenddessen in mich gehen.
Nach einer Weile hörte sie auf und sah ziemlich besorgt aus. Sie sagte, mein „höheres Selbst“ habe angstvoll auf ein Ereignis gedeutet, das man anschauen solle. Da käme sie alleine aber nicht weiter. Ob es vielleicht sexuelle Grenzüberschreitungen von Seiten des Großvaters gegeben haben könne? Ich wusste davon nichts. Allerdings erzählte ich ihr, dass ich solche Gedanken in meinem Studium bei der Beschäftigung mit Gewalt bei Kindern kurz gehabt hatte. Laut meiner Mutter hatte ich als Kind zeitweilig meinem Vater gegenüber ein Verhalten gezeigt, wie es in solchen Fällen typisch ist. Daraufhin meinte Frau S., dass sie im Inneren auch mich und meinen Vater „gesehen“ habe. Ich war erschrocken. „Dann stimmt das vielleicht doch“, dachte ich mir.
Frau S. ließ mich mit meiner Aufmerksamkeit in meine Blase gehen, um „alte Erinnerungen“ hochkommen zu lassen. Mir war, als würde eine Fratze vor meinem Gesicht erscheinen – das war alles.
Ich hatte beim Studium gelesen, dass Missbrauch oft über die Generationen weitergegeben wird. Auch hatte ich ein recht differenziertes Menschenbild gewonnen. Ich wusste, dass man Menschen nicht in gut und böse einteilen kann, und dass man bei keinem Menschen völlig sicher sein kann, zu was er fähig ist. So fragte ich, ob mein Vater vielleicht selbst Opfer von sexuellem Missbrauch geworden sein könne. Dies wurde bejaht. Dadurch bestärkte sich theoretisch für mich die Möglichkeit, dass mein Vater zum Täter hätte werden können.
Frau S. meinte, ich solle nun erst mal öfter zu ihr kommen – meine Eltern würden das bestimmt bezahlen, um vielleicht wieder „etwas gut machen“ zu können. Dann sagte sie noch, dass sie mich für stabil halte und dass sie mich jetzt guten Gewissens nach Hause gehen lassen könne.
Wie stabil war ich wirklich? Ein Ereignis in der Straßenbahn nach Hause zeigte das: Ich saß apathisch in der Bahn, als ich mitbekam, wie eine Frau ihr höchstens eineinhalb Jahre altes Kind ins Gesicht schlug. Ich mischte mich ein und fragte sie, ob sie das in Ordnung fände. Sie reagierte sofort aggressiv. Sie und ein Mann in ihrer Begleitung fingen an, mich sehr vulgär zu beschimpfen. Ich rief per Handy die Polizei an, das Ganze wurde immer lauter und aufgeregter. Als die Bahn anhielt, stiegen die beiden aus und wollten, dass ich auch ausstieg, „um das zu regeln“. Keiner der umstehenden Menschen wollte mir helfen. Ich blieb verzweifelt weinend zurück.
Ich weinte, bis ich zuhause war. Dort beruhigte ich mich irgendwann wieder. Normalerweise hätte ich jetzt meine Mutter angerufen, aber ich traute mich nicht. Wenn die Behauptung von Frau S. stimmte, würde unsere Familie zerbrechen. Es kam mir so vor, als hätte ich keine Familie mehr.
Zwei Tage lang dachte ich darüber nach, ob die Behauptung der Therapeutin wirklich stimmen könnte und in welchen Situationen solche Erlebnisse hätten stattfinden können. Ich steigerte mich in schreckliche Bilder hinein. So hatte ich plötzlich die Vorstellung, ich wäre als kleines Kind in der Badewanne auf den Kopf gefallen, weil mir jemand die Füße weggezogen hatte. Andererseits wusste ich von der Tatsache, dass falsche Erinnerungen induziert werden können, was mir aber auch Angst machte.
Von da ab ging ich durch ein Wechselbad der Gefühle.
Einerseits begann ich unwillkürlich, meine für mich sehr schöne Kindheit in einem anderen Licht zu sehen. Ich schlief mit Licht. Freundinnen, mit denen ich darüber redete, waren geschockt, aber auch skeptisch. Ich fragte die mir Vertrauteste, ob ich bei ihr schlafen könne. Sie hatte keine Zeit. Da fühlte ich mich vollkommen allein.
Dann wieder sah ich das Ganze recht nüchtern. Ich weinte nicht – es war eher wie in einem komischen Traum. Ich versuchte, mich auf mein Gefühl zu verlassen und horchte in mich hinein. Zuerst konnte ich mir ganz sicher sagen: „Sollte das wirklich stimmen, dann wusste meine Mutter unter gar keinen Umständen etwas davon.“ Am nächsten Tag war ich mir dessen auch schon nicht mehr so sicher. So verlor ich langsam das Vertrauen in mein Gefühl.
Nach zwei Tagen traf ich eine Entscheidung, die im Rückblick gesehen meine Rettung war: Ich schrieb Frau S. eine Mail und teilte ihr mit, dass ich nicht mehr zu ihr kommen würde, dass ich auch nicht glauben wolle, was Sie mir in dieser einzigen Therapiestunde gesagt hatte, und dass ich Angst vor induzierten Erinnerungen hatte. Mein eigenes Gefühl hatte mir gesagt, dass ihre Vermutungen Unsinn sind, und dass ich bei ihr nur depressiv werden würde. Das sagte ich auch einer Freundin.
Trotz dieser klaren Entscheidung hatte diese eine Therapiestunde mein Leben auf den Kopf gestellt. Es ging ständig auf und ab. Ich hatte Angstgefühle, konnte keine gruseligen Filme mehr sehen. Immer wieder ging es mir schlecht und ich musste an die Behauptung denken, ich sei durch meinen Vater missbraucht worden. Als ich jedoch merkte, dass mich diese Geschichte nicht losließ, entschied ich mich in einer sehr aufgeregten Nacht, mit meiner Mutter zu sprechen und fuhr sofort am nächsten Tag zu ihr. Auf der fünfstündigen Autofahrt dorthin waren meine Nerven wie Drahtseile gespannt.
Meine Mutter war aufgrund unseres Telefongesprächs darauf gefasst, ich könnte ihr so etwas Schreckliches wie eine Krebserkrankung mitteilen wollen. Deshalb war sie fast froh, dass es „nur“ eine komische Behauptung war, die mich so erschütterte. Wir sprachen lange darüber und es tat mir sehr gut, dass sie mir mit absoluter Sicherheit sagen konnte, dass die Behauptung nicht stimmt. Ich war erleichtert, fuhr wieder nach Hamburg und konnte die Geschichte eine Zeitlang vergessen.
Doch die Angstzustände und die Erinnerung an die Missbrauchsbehauptung ließen mich nicht los. Ich entschloss mich spontan, auch mit meinem Vater zu sprechen. Dieses Gespräch war unglaublich gut, mein Vater war überhaupt nicht beleidigt, sondern sehr liebevoll und fürsorglich. Ich konnte mich ihm sehr nah fühlen, was sonst nicht so oft vorgekommen war, und ich konnte ihm vollkommen vertrauen. Ich ging überglücklich ins Bett und war froh, nun endlich nicht mehr an Frau S. mit ihrer gefährlichen Beeinflussung denken zu müssen.
Doch auch dieses Gespräch brachte meine frühere Stabilität nicht zurück. Ich wachte am nächsten Morgen wieder mit Angstzuständen auf. Von da an stand fest, dass mich diese eine Therapiestunde ernsthaft aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Ich ließ mich krankschreiben und blieb eine Woche bei meinen Eltern. Gemeinsam mit meinen Eltern eruierte ich, wie mich diese Behauptung so aus dem Tritt hatte bringen können.
Als ich dann wieder meine Arbeit im psychotherapeutischen Praktikum aufnahm, merkte ich schnell, dass ich dem Leid meiner Patienten nicht mehr gewachsen war. Ich zog für eineinhalb Monate zu meinen Eltern und versuchte, diese Mischung aus Depression und Angst selbst in den Griff zu bekommen. Dabei war ich zwischenzeitlich immer mal wieder mehrere Tage stabil und konnte die Geschichte objektiv betrachten. An schlechteren Tagen jedoch löste alles Angst aus, was mich an die Geschichte erinnerte oder irgendwie mit sexuellem Missbrauch zu tun hatte.
Leider war die Behandlung einer Therapeutin, die ich deshalb aufsuchte, eher kontraproduktiv. Sie sagte, ich solle doch meinem Unterbewussten vertrauen und machte ansatzweise Hypnose mit mir, obwohl ich das eigentlich nicht wollte. Das löste bei mir noch mehr Angst und Verlust meiner „inneren Sicherheit“ aus. Also brach ich die Therapie ab. Glücklicherweise fand ich im Internet den Verein „Schulterschluss bei Sektenbetroffenheit“ bzw. den „Arbeitskreis Induzierte Erinnerungen“ in Wuppertal. Dort wurde mir empfohlen, mich an Herrn Prof. Stoffels von der Parkklinik Sophie Charlotte in Berlin zu wenden. Ich ließ mich dort aufnehmen und verbrachte sechs Wochen in der Klinik, wobei das Kreisen der Gedanken anfangs noch sehr viel schlimmer wurde und auch Suizidgedanken gekommen sind. Trotzdem wurde dort die Grundlage meiner Stabilisierung gelegt, die sich aber erst anschließend und sehr langsam eingestellt hat.
Nach einem Dreivierteljahr konnte ich wieder arbeiten, vorerst allerdings nicht in der Psychotherapie, sondern als Erzieherin in einem Kinderhort. Mir war wichtig, nicht sofort wieder mit psychischen Problemen von Patienten konfrontiert zu sein, denn dazu wollte ich erst wieder festen Boden unter meinen Füßen spüren. Nach einer Reise und einem Sprachkurs habe ich meine Psychotherapieausbildung wieder aufgenommen.
Inzwischen sind fast 5 Jahre vergangen. Um das Ganze abzuschließen habe ich mit Frau S. noch einmal telefoniert. Dabei stellte sich heraus, dass sie in bester Absicht gearbeitet hatte. Ihr Fehler, den sie auch zugegeben hat, war ihr nicht bewusst. Nach dem Vorfall blicke ich einerseits erschüttert darauf zurück, wie großen Einfluss eine solche schnell gemachte Bemerkung haben konnte. Andererseits bin ich auch dankbar dafür, denn die schwärzeste Zeit meines Lebens war trotz ihrer Schwere und Hoffnungslosigkeit auch eine Zeit der Transformation für mich. Ich habe gelernt, was mir im Leben wichtig ist und was für ein Verhalten ich mir selbst gegenüber schuldig bin. Ich habe ein großes Maß an Empathie – aber auch an Vorsicht – gewonnen, wenn es um Patienten geht, die von Missbrauch betroffen sind.
Bericht eines betroffenen Vaters⇒⇐Eine Hoffnungsgeschichte