Zu Unrecht beschuldigt

Der folgende Aufsatz erschien am 27.07.2013 in der Schleswig-Holsteinischen Zeitung unter „Tatort Schleswig-Holstein“. Wiedergabe mit Genehmigung des Autors und des Verlags.

Zu Unrecht beschuldigt

VON KLAUS-PETER LOHMANN

Das Leben des Geschäftsmanns Robert Petersen (Name geändert) gerät aus den Fugen – seine Stieftochter wirft ihm vor, sie jahrelang sexuell missbraucht zu haben. Die Versuche seine Unschuld zu beweisen, treiben den 56-Jährigen in die Verzweiflung. An einem Abend mitten in der Woche sitzt der Geschäftsmann Robert Petersen in seinem Sessel und erholt sich nach einem langen Arbeitstag. Es geht ihm gut, er ist 56 Jahre alt und führt ein Leben, das vollkommen in Ordnung ist. Dass dies der Fall ist, wird ihm jedoch erst später bewusst. Unfassbares sollte sein Leben innerhalb weniger Sekunden ins Chaos stürzen.

Petersens Partnerin bittet an jenem Abend um ein Gespräch. Erst zögerlich, doch dann sehr bestimmt stellt sie folgende Frage: „Marie (die Stieftochter von Robert Petersen) sagt, dass du sie jahrelang sexuell missbraucht hast.“ Dieser Satz wirft den 56- Jährigen völlig aus der Bahn. Er kann nicht fassen, was er gerade gehört hat. „Die Welt scheint still zu stehen, während meine Gedanken beginnen, sich wie im Karussell zu drehen. Ich suche nach einer Möglichkeit, etwas falsch verstanden zu haben. Das kann doch nicht sein, ich habe nichts getan. Ich bin fassungslos. Wie kann das sein? Wie kann sie so etwas behaupten? Meine Gedanken schießen in Sekundenbruchteilen hin und her“, erinnert sich Robert Petersen an diesen Moment.

Filmszenarien spielen sich vor seinem inneren Auge ab: Polizei, Abführen, Verhören, Gefängnis, Beschimpfungen durch Nachbarn und Freunde. Er sucht den Blickkontakt zu seiner Partnerin und der zweiten Stieftochter. Verzweifelt stellt er fest, dass sie ihm keinen Glauben schenken. Sie antworten nicht, sondern gucken ihn skeptisch an. Panik steigt in dem Geschäftsmann hoch – er rechnet damit, dass ihm niemand glauben wird und bekommt große Angst vor der Zukunft. Für diesen Moment ergreift er die Flucht.

Marie bricht den Kontakt zu ihrem Stiefvater ab und hegt große Abscheu gegen jeden, der ihr nicht glaubt. Auch gegen ihre eigene Mutter, die sich nicht von ihrem Partner distanziert. „Sie sagt, sie hasse mich und überhaupt jeden, der ihr nicht glaubt. Ich weiß, sie hat es als Scheidungskind nicht einfach gehabt. Sie war viele Jahre lang in vielen therapeutischen Händen. Ich mache mir Sorgen um sie, aber solch eine Beschuldigung kann ich immer noch nicht fassen“, erzählt Robert Petersen, der sich in der Zwischenzeit an einen Rechtsanwalt gewendet hat. Zudem weiht er einige wenige Freunde und Familienmitglieder ein und fragt sie um Rat. „Der Rechtsanwalt sagte mir, dass ich zwar eine Anzeige wegen Verleumdung erstatten könne, dass aber mit ziemlicher Sicherheit nichts dabei herauskommen würde.“

Robert Petersen überlegt, wie er seine Unschuld beweisen kann. Eine Anzeige gegen die 26-jährige Frau würde die Beschuldigung gegen ihn öffentlich machen, sagt der Anwalt. „Sie werden niemals gänzlich ihre Unschuld beweisen können“, sagt er und weist darauf hin, dass es in den Köpfen der Menschen immer heißen wird: „Na, da wird wohl ein Fünkchen Wahrheit dran sein.“ Außerdem macht er den 56-Jährigen darauf aufmerksam, dass seine Familie im Falle einer Anzeige sehr leiden würde – im schlimmsten Fall daran zerbricht. Er rät ihm daher davon ab, da dies alles zerstören würde. Petersen weiß nicht was er tun soll. Allen, den er von den Beschuldigungen erzählt hat, waren geschockt. Ein Teil stellte sich auf seine Seite, die anderen schenkten Marie, „dem Kind“, ihren Glauben.

Im Internet findet der Beschuldigte jede Menge Hinweise zum Thema Kindesmissbrauch. Schwierig wird es, bei der Suche nach „falsche Beschuldigung zum Kindesmissbrauch“. Robert Petersen gelangt bei seiner Suche auf die Homepage des Vereins „false memory Deutschland“. „Ich hatte Glück im Unglück, denn hier fand ich endlich Gehör. Wo weder Polizei noch Weißer Ring oder andere Sozialstationen mich beraten konnten oder wollten, ja sogar zum Teil sofort als Täter beschuldigten, hörte man mir hier zu.“ Hier kennt man das Problem der falschen Behauptungen und man sagt ihm, dass er damit nicht alleine sei. Es gäbe viele Väter und auch Mütter, die falschen Behauptungen des Kindesmissbrauchs ihrer dann oftmals erwachsenen Kindern ausgesetzt seien. Meist werde der Kontakt von den Kindern nach Erhebung der Beschuldigungen zu den Eltern abgebrochen und fast immer zerbreche die Familie daran. Von Ehen und Freundschaften ganz zu schweigen. Oftmals werden in Trauma-Therapien Erinnerungen erzeugt, die so nie stattgefunden haben.

„Ich erfuhr, dass es hier oft keine schnelle Lösung gibt und dass sich Familien manchmal über Jahrzehnte damit auseinandersetzen müssen“, erzählt Robert Petersen. Eine Möglichkeit der Ursache für solche falschen Beschuldigungen können in Trauma-Therapien zu finden sein. In deren Verlauf können falsche Erinnerungen, die so nie stattgefunden haben, hervorgerufen werden. Andere Möglichkeiten sind selbstinduzierte Erinnerungen oder etwa Hassgefühle.

Erschreckend ist, dass in jedem dieser Fälle eine Rücknahme ohne Gesichtsverlust kaum möglich ist. In Amerika, England und Frankreich ist das Problem der falschen Erinnerungen seit Jahren bekannt, erkannt und weitgehend überwunden worden. In Deutschland dagegen wird dieses Thema von den zuständigen Stellen und Medien kaum aufgegriffen und somit bleibt das Problem hierzulande oft unerkannt.

Heute, sechs Monate später, sagt Robert Petersen: „Ich habe mir keinen Strick genommen. Meine Partnerin ist bei mir geblieben. Die zweite Stieftochter, Louise, ist in eine eigene Wohnung gezogen. Sie sagt, dass sie ihrer Schwester beistehen muss, ihr glauben muss. Viele Freunde, Bekannte, Nachbarn, Arbeitskollegen wissen von nichts. Die Familienbande sind zerstört.“ Zusammen mit seiner Partnerin habe er an einem Seminar für „von falschen Missbrauchsbeschuldigungen betroffenen Familien“ beim Verein „false memory Deutschland“ teilgenommen. „Es hat uns geholfen zu verstehen, was passiert sein könnte, wodurch solche falschen Anschuldigungen entstehen können. Es hat uns geschockt zu sehen, wie erschüttert Eltern auch nach Jahrzehnten noch darüber berichten, was ihnen passiert ist. Und es hat uns ein Fünkchen Hoffnung für mögliche Wege aus dieser Situation gegeben.“

Trotzdem hat Petersen noch heute Angst, dass die Vorwürfe weiter verbreitet werden. Ihm und seiner Partnerin fällt es schwer: „Ganz nah unter unserer dünnen Haut tobt die Verzweiflung. Manchmal möchte ich zurück haben, was ich wohl niemals wiederbekommen werde. Das gegenseitige Vertrauen, meine Partnerschaft, wie sie vor der falschen Beschuldigung war, meine Selbstsicherheit und die Leichtigkeit des Seins. Bis heute wissen wir nicht, wie Marie zu diesen falschen Beschuldigungen gekommen ist und wer oder was sie dazu bewegt hat.“

Heidemarie Cammans ist stellvertretende Vorsitzende von False Memory Deutschland e.V. (Arbeitsgemeinschaft falsche Missbrauchserinnerung, FMD) und fragt: „Sie sind sich keiner Schuld bewusst? Kommt die Beschuldigung von ihren eigenen erwachsenen Kindern oder Enkeln? Sind diese vielleicht in einer Psychotherapie? Oder haben sie den Kontakt zu Ihnen plötzlich abgebrochen? Dann besteht die große Gefahr, dass Sie zum Opfer falscher Erinnerungen werden.“

So absurd einem solche Vorwürfe vorkommen mögen, man ist damit nicht allein. Es gibt Tausende, die das Gleiche erlebt haben. Über den Verein False Memory kann man sich mit anderen Betroffenen in Verbindung setzen und mit ihnen Erfahrungen austauschen. Wenn eine Beschuldigung aufgrund falscher Erinnerungen erfolgt, könne man von False Memory Deutschland Rat und Hilfe erwarten. Zudem wird auch bei der Suche nach Verteidigern und Aussagepsychologen, die ihre Unterstützung anbieten, geholfen werden. Da meist Aussage gegen Aussage steht, kann deren Gutachten entscheidend sein. Allerdings, und das betont Heidemarie Cammans: „False Memory Deutschland schützt in keinem Fall Straftäter!“

Die Tragik falscher ErkenntnisseBericht eines betroffenen Vaters

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