Vortrag einer betroffenen Mutter bei der Herbstbegegnung von False Memory Deutschland im Oktober 2024
Ich möchte das, was ich heute Ihnen erzähle, mit einem Märchen von Inge Wuthe beginnen. Märchen wird nachgesagt, dass sie die Magie des Wunders in sich tragen.
Hier eine sehr verkürzte Form, aber diese Zeilen sagen das, was wir brauchen.
Die Traurigkeit schluckte schwer und fuhr weiter fort
Ich will den Menschen doch nur helfen. Aber nur wer die Trauer zulässt und all die nicht geweinten Tränen weint, kann seine Wunden wirklich heilen.
Das Weinen der Traurigkeit wurde immer stärker, schließlich war sie in den Armen der kleinen alten Frau nur noch ein zitterndes, weinendes Bündel.
Weine nur, Traurigkeit, flüsterte die kleine alte Frau liebevoll, ruh dich aus, damit du wieder Kraft sammeln kannst, du sollst von nun an nicht mehr alleine wandern. Ich werde dich begleiten, damit die Mutlosigkeit nicht noch mehr Macht gewinnt.
Die Traurigkeit hörte auf zu weinen. Sie richtete sich auf und betrachtete erstaunt die kleine alte Frau.
Aber, aber … wer bist du?
Ich, sagte die kleine alte Frau, ich bin die Hoffnung.
Nun zu unserer Geschichte: Nach 13 Jahren kam unsere Tochter zurück. Sie umarmte uns und es fühlte sich an, als wäre sie nie weg gewesen. Genauso hat sie es auch empfunden.
Wie alles anfing
Nach dem Abitur war unsere Tochter Annika müde, erschöpft. Wusste nicht richtig, wie es mit ihrem Leben weitergehen wird. Wir fanden das alles ganz normal. Um sie zu unterstützen, kam mein Mann auf die Idee, Annika mit zu seiner Therapeutin zu nehmen. Diese arbeitete mit Hypnotherapie. Mein Mann war auf Empfehlung bei der Frau. Er sah es als gut an, auch Annika dort mit hinzunehmen. Annika hatte ganz schnell einen Draht zu der Frau.
Nach 2-3 Wochen fragten wir Annika, wie es bei der Therapeutin liefe. Sie antwortete, sie dürfe nichts sagen. Wenn sie ihr Problem erkannt hat, wird sie es uns mittteilen. Diese Aussage befremdete uns. Mittlerweile war auch unsere zweite Tochter, Emma, bei der Therapeutin. Als die Therapie von Annika zweimal die Woche stattfand, kam uns diese ganze Sache suspekt vor und wir wollten, dass die Sitzungen beendet werden. Vor allem, weil Annika sich in Schweigen hüllte und betonte, sie würde intensiv an dem Problem arbeiten. Könne aber nur mit ihrer Therapeutin darüber sprechen. Sie sagte uns, sie stünde kurz davor, das Problem zu lösen. Also erlaubten wir weitere Termine bei der Frau.
Am 20. Januar 2009 platzte die Bombe
Annika war 21 Jahre alt. Einzeln informierte uns unsere Tochter: Sie wisse jetzt endlich, was ihr Problem sei. Wir sind schuld. Wir haben sie sexuell missbraucht. Mein Mann hat es getan und ich habe das alles gedeckt.
Ich war wütend, enttäuscht, traurig, fassungslos. Ich fragte Annika, warum sie es mir zuerst erzählt. Sie glaubte, ich könne sie verstehen, und sah in mir eine Verbündete. Sie wollte, dass wir eine Therapie machen. Meinem Mann hat sie es zwei Tage später erzählt. Tage nach unserem Gespräch sagte ich ihr, sie könne nicht mehr bei uns wohnen, weil ich diesen Vorwurf und ihre abfälligen Blicke nicht mehr ertrage. Mein Mann fand meine Entscheidung, sie zu bitten auszuziehen, nicht gut. Annika zog zu einer Freundin. Kurz darauf bekam sie einen Studienplatz und der Kontakt brach ab.
(Im Rückblick war es vielleicht ein Fehler, sie zu bitten zu gehen. Heute würde ich das Gespräch suchen. Damals war ich überfordert und nicht in der Lage dazu. Ich war zutiefst verletzt.
Bei unserem ersten Annäherungs-Treffen mit ihr habe ich mich dafür entschuldigt.)
Wir suchten Hilfe
Wir suchten Hilfe bei Menschen, die mit Annika sprechen könnten. Sie nahm das sogar an. Aber es war keine Hilfe für uns. Es wurde nicht erkannt, wie massiv diese Diagnose sich in sie eingebrannt hatte. Und wie sehr dieser Vorwurf Folgen für uns alle hatte. Zu oft bekamen wir die Antwort „das geht vorüber“. Sie wird schon merken, dass das nicht stimmt. Das alles half uns nicht. Wir waren im Schock und hilflos.
Jeder, der heute hier sitzt, weiß, von was ich spreche. Wir haben alle mehr oder weniger ähnliche Erfahrungen mit diesem Thema. Es eint uns und wir können uns unterstützen und Hoffnung geben. Das ist für jeden von uns ein großer Gewinn. Es ist unser Schatz. Bei False Memory werden wir verstanden. Hier bekommen wir die Antworten, die uns unterstützen und helfen. Die uns helfen zu überleben und die betroffenen Familien gestärkt in das Leben zurückführen können.
Was haben wir unternommen?
Damit wir überhaupt noch als Restfamilie funktionieren konnten, haben wir professionelle Gesprächstherapie bei einer Familientherapeutin gemacht. Das half uns. Wir haben verstanden, dass wir warten müssen. Wir können nichts tun, solange Annika sich verweigert. Wir haben begriffen, dass es ein Leben danach gibt. Wir haben begriffen, dass wir eine Tochter Emma haben, die uns braucht. Die uns braucht als Eltern. Emma hat ihre Schwester verloren und die Familie, die sie bis jetzt kannte. Wir wussten, dass das Leid so schnell nicht weggehen wird. Der Platz am Tisch war und blieb leer. Der Schmerz über die Abwesende, dieser Schmerz wirkte in der Tiefe unserer Seelen.
Wie lernt man warten mit so einer Last? Wie lernt man, mit so einer Trauer zu leben? Mit Freunden konnten wir nicht darüber sprechen. Denn so ein Vorwurf ist kein gutes Gesprächsthema und stigmatisiert. Tenor unserer Therapeutin: Schnell heißt es, na ja, vielleicht ist doch was dran. Wir wollten aber gerade darüber sprechen. Wir drehten uns im Kreis. Hatten keine Kraft mehr, miteinander darüber zu reden. Wir wurden still. So suchte sich jeder in der Familie seine Art, mit dem Verlust umzugehen. Ich habe mich in Arbeit gestürzt. Habe meine Trauer und mein Leid auf Papier verewigt, um loszulassen.
Der Versuch zu begreifen, was passiert war
Mein Mann hat Notizen gemacht und sich bei False Memory engagiert. Es hat ihm geholfen, weil er Menschen getroffen hat, die ihn verstanden. Er hat alles gelesen, was möglich war, und Informationen gesammelt. Er wollte verstehen, wie es möglich ist, dass diese Anschuldigung aus dem Nichts unsere Familie zerstören kann. Die Gründung und Arbeit mit False Memory gab ihm die Antworten. Er hat dort erfahren, dass wir nicht die einzige Familie sind. Dass es noch viel mehr solcher Fälle gibt. Wir waren nicht allein. Wir konnten mit anderen betroffenen Familien sprechen. Das hat uns geholfen und auch gezeigt, dass Kinder wieder zurückkommen können.
Die Rolle der Geschwister – ein Appell
Unsere Tochter Emma hat gemerkt, dass der Mittelpunkt der Familie Annika heißt. Emma hat ihre Art gefunden und war selten zu Hause. Sie hatte alles verloren, ihre Eltern, ihre Freundin, ihre Schwester. Kam mal ein Lebenszeichen von Annika, war unsere Freude riesengroß. Das hat Emma beleidigt und auch verletzt. Weihnachten und alle Familienfeste waren für sie ein Graus. Sie hat uns gesagt, wenn das so weitergeht, will sie mit uns keine Feste mehr feiern. Das hat uns getroffen. Wir waren blind vor Kummer und Verzweiflung gewesen.
Daraufhin sind wir mehr auf ihre Bedürfnisse und Wünsche eingegangen.
Emmas Meinung heute, mit 33 Jahren: Sie sagt, das Wichtigste für sie als betroffenes Familienmitglied ist, dass Eltern den Kummer und das Leid loslassen. Aus ihrer Opferrolle aussteigen. Ihr Leben wieder anpacken. Sich fragen, wer bin ich? Sich nicht von der Situation, von dem Vorwurf vereinnahmen lassen. Das heißt aus dem Gefühlschaos aussteigen, um Wege gelöst weiterzugehen. Nach den Menschen schauen und die wertschätzen, die da sind. Nur kraftvolle und hoffnungsvolle Eltern können Kraft und Liebe geben. Die Kinder der betroffenen Eltern und Familien leiden genauso unter dem Verlust. Gerade durch die Fürsorge starker Eltern lernen sie, mit Enttäuschung, Schmerz und Leid umzugehen. Sie brauchen die Hoffnung, dass das Leben trotz alledem gut weitergehen kann und auch gut weitergeht. Die Aufgabe der Eltern ist, nicht nur das Leid zu tragen, sondern auch die wertzuschätzen, die in der Familie bleiben und sind.
Das ist wohl die größte Herausforderung für alle Mütter, Väter und Familienmitglieder.
Jahre vergingen
Um weiter den Kontakt zu unserer Tochter Annika zu halten, haben wir auf Rat von False Memory unserer Tochter zu jedem Fest ein Päckchen geschickt. Aus jedem Urlaub kam eine Ansichtskarte von uns. Aktionen gegen das Vergessen. Sie hat alles angenommen und sagt heute, sie habe sich darüber gefreut und uns genauso vermisst.
Eine ganz bittere Erfahrung machten wir, als wir einer befreundeten Familientherapeutin erzählten, dass Annika Telefonanrufe von uns nicht mehr annimmt. Sie schlug vor, wir sollten sie überraschend besuchen.
Wir sind in die Stadt gefahren, wo sie studierte. Haben sie vom Hotel aus angerufen. Zwei Stunden lang haben wir eine Tirade aus Vorwürfen über uns ergehen lassen müssen. Danach haben wir sie nie wieder angerufen.
Ich habe Annika vor einigen Wochen darauf angesprochen. Sie hat mir gesagt, dass sie aus Angst ein halbes Jahr kaum aus dem Haus gegangen ist, aus Furcht, sie könne uns treffen. Sie hatte Angst, wir würden ihr auflauern und sie beschimpfen.
Diese Aktion hat uns Jahre der Annäherung gekostet.
Wir haben unserer Tochter Emma von dieser unserer Aktion in Annikas Studienort erzählt. Sie ist aus allen Wolken gefallen. Emma schlug vor, dass alle Aktionen mit ihr abgesprochen werden sollen. Sie sei mit ihrer Schwester in Kontakt und weiß, wie es ihr geht. Das alles sei viel zu früh. Annika braucht noch Zeit. So wurde uns bewusst: Die zwei stehen in Kontakt und reden miteinander.
Heute sagt Emma:
Es war eine schwere Zeit für sie. Sie war immer zerrissen. Doch sie wollte wieder eine Familie haben. Es kostete sie viel Kraft und der Preis war sehr hoch für sie.
Mit den Zweifeln kommt die Wende
Heute sagt Annika, dass mit der Zeit der Zweifel kam. Die Ursprungstherapeutin gab ihr keine Sitzungen mehr und es ging ihr schlecht. Sie fühlte sich fallengelassen. Das ganze Thema war auch mit Scham besetzt. Sie suchte sich eine Psychologin, die nicht mit Hypnotherapie arbeitete. Mit dieser Frau hat sie das Thema nochmal bearbeitet. Annika hat mir erzählt, dass die Therapeutin erst zögerlich war, ob der „Topf“ nochmal aufgemacht werden sollte. Schnell kommt es zu einer Retraumatisierung, was den Prozess erschweren kann. Aber die Therapeutin war mutig und hat gesagt, wenn Annika das will, ist sie bereit dazu. Annika war bereit dazu. Das war unser Glück.
Kontaktaufnahme
Das Ergebnis war, dass Sie nach 10 Jahren den Kontakt zu uns suchte. Wir schrieben viel miteinander. Oder es wurde telefoniert. Sie wurde schwanger und wollte erst einmal das Kind bekommen. Das Kind wurde ein Jahr alt … es wurde zwei Jahre alt … Ein Zurück zu uns war ein langer Weg.
Heute sagt sie, es tut ihr sehr leid, was sie ihrem Vater angetan hat, und würde die Therapeutin am liebsten anzeigen.
Ich/wir sagten ihr, sie hat die 13 Jahre gut gemeistert und sie soll sich dafür wertschätzen. Das alles hat sie ohne Hilfe der Eltern geleistet. Ich bin mir sicher, dass es nicht immer einfach für sie war. − Jetzt fängt was Neues an!!! Und darauf freuen wir uns alle! Das war 2022!!!
Versöhnung
Ein Jahr später erzählte Emma Annika, dass ihr Vater sehr krank ist. Dass wir nicht wissen, wie lange er noch lebt und ob er es schafft. Emma sagte zu ihr, wenn er sterben sollte und sie den Vorwurf nicht geklärt hat, würde sie ihr die Hand am Grab nicht halten.
So kam meine/unsere Tochter mit Enkelkind langsam immer mehr zurück in die Familie. Wir hatten drei Jahre zusammen. Im April hat sie Urlaub genommen und sich mit ihrem Vater ausgesprochen. Danach sagte mein Mann: „Jetzt ist alles geklärt und alles ist gut, jetzt kann ich sterben.“ In der letzten Aprilwoche ist Annika mit ihrer Tochter zu uns nach Hause gekommen. Wir alle haben ihn in seinem Sterbeprozess begleitet. Was uns als Familie geholfen hat. Es hat uns versöhnt und der Friede kam.
Heute haben wir alle guten Kontakt. Wir hüten das Enkelkind und wenn die Zeit es zulässt, ist sie zu Hause bei uns. Oder wir fahren zu ihr und besuchen sie.
Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit.
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