Berlin 2014, 538 Seiten, ISBN 978-3-8305-3145-6
Hier wird die zweite, wesentlich erweiterte Auflage dieses Sammelbandes besprochen. Die erste Auflage ist vergriffen, wird aber noch (zu einem sehr hohen Preis) z. B. bei Amazon verkauft, was kaum verständlich ist angesichts der Tatsache, dass die neue Auflage (zu einem Bruchteil des Preises) bis auf einen Beitrag sämtliche Beiträge der alten Auflage, aber zusätzlich nahezu den gleich Umfang an neuen Beiträgen enthält.
Es handelt sich um Fachliteratur, die zum Teil, auch aufgrund der speziellen Fachterminologie für Laien nicht leicht auswertbar ist. Trotzdem kann das Buch denjenigen von falschen Erinnerungen an sexuellen Missbrauch Betroffenen empfohlen werden, die sich aktuell in einem Strafprozess befinden oder einen solchen befürchten, vorausgesetzt, sie sind bereit, sich in die Materie einzuarbeiten. Im Rahmen einer Kurzbesprechung kann nicht auf sämtliche 31 Teilbeiträge eingegangen werden. Sie sind auch keineswegs alle für den genannten Personenkreis von Interesse.
Da die einzelnen Referate vielfach die gleichen Probleme aus der Sicht unterschiedlicher Prozessbeteiligter (Richter, Staatsanwalt, Verteidiger, psychologischer/psychiatrischer Gutachter) enthält, die Sicht dieser Parteien aber häufig in den Grundzügen übereinstimmt, enthält das Buch quer durch alle Beiträge ein hohes Maß an Redundanz. Das ist eine Schwäche eines Sammelbandes im Gegensatz zu einer geschlossenen Darstellung.
Ein großer Teil der Beiträge befasst sich mit der Frage, wie die Prozessbeteiligten sich in der Konstellation „Aussage gegen Aussage“ verhalten können. Speziell diese Beiträge können einem Beschuldigten helfen, unnötige Fehler zu vermeiden und seine Rechte bei der Vernehmung geltend zu machen. Sollte jemand von einem Anwalt vertreten sein, der in Prozessen zu Sexualdelikten und speziell zu falschen Erinnerungen weniger erfahren ist, so sollte er auch daraufhinwirken, dass sein Anwalt dieses Buch studiert.
Besondere Beachtung verdient zweifellos der Beitrag von von Köhnken (Universität Kiel) zu Fehlerquellen in aussagepsychologischen Gutachten, obwohl er für den Betroffenen nur informatorischen Wert hat und sich für ihn kaum eine Handlungskonsequenz daraus ergibt.
Hochinteressant ist der Beitrag Eschelbach (BGH), der mit dem Problem falscher Erinnerungen absolut vertraut ist. Gleichzeitig geht dieser Beitrag außerordentlich kritisch mit der gängigen Prozesspaxis, insbesondere bei „Aussage gegen Aussage“ um. Er weist auf die prozessuale Schieflage hin, die auf verschiedenste Weise entsteht. So führt er an, dass eine Opferschutz-Hysterie in der Praxis häufig zu einer Umkehrung der Beweislast geführt hat, während gleichzeitig das Risiko für Falschbeschuldigungen minimiert wurde. Während früher ein Beklagter aufgrund der Aussage eines einzigen Zeugen in der Regel nicht veruteilt wurde, hat die „freie Beweiswürdigung“ durch das Gericht zunehmend dazu geführt, dass auch aufgrund einer einzigen Zeugenaussage eines obendrein parteiischen Zeugen schwere Veruteilungen entstehen. Auch hat der Nebenkläger, der in unseren Fällen meist mit dem vermeintlichen Opfer identisch ist, die Möglichkeit, über seinen Anwalt Akteneinsicht zu erhalten. So kann er seine eigenen Aussagen zu verschiedenen Zeitpunkten hinsichtlich einer Glaubhaftigkeitsanalyse abgleichen und sich (z.B. durch Opferschutzorganisationen) trainieren zu lassen. Auf diese Weise wird die psychologische Glaubhaftigkeitsanalyse weitgehend unwirksam.
Speziell für Opfer von Falschbeschuldigungen durch falsche Erinnerungen, die regelmäßig lange nach den behaupteten Taten erhoben werden, ist es wichtig zu wissen, dass in mehreren Beiträgen gerade die Tatsache einer langen Zeit zwischen angeblicher Tat und Beschuldigung bei der Konstellation „Aussage gegen Aussage“ als einer der Gründe gewertet wird, bei denen die Glaubhaftigkeitsbeurteilung, die grundsätzlich in die Kompetenz des Richters fällt, dessen zu erwartende Sachkunde oft übersteigt und die Beauftragung eines Fachgutachtens erforderlich macht (Eschelbach, S. 69, Daber, S. 262). Mehrfach wird dabei darauf hingewiesen, dass diese Begutachtung zum möglichst frühem Zeitpunkt in den Prozessverlauf eingeführt werden sollte, u. A., weil deren Ergebnis bereits dazu führen kann, dass das zuständige Gericht die Hauptverhandlung gar nicht erst eröffnet.
False-Memory-Probleme werden in verschiedenen Beiträgen explizit angesprochen, so bei Eschelbach (S. 43) und Deckers (S. 243). Das soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch in diesem umfangreichen Sammelband falsche Erinnerungen durch therapeutischen Einfluss zwar sicher allen Beteiligten bekannt sind, aber nur eine Randrolle spielen.