München 2016, 301 Seiten, ISBN 978-3-446-44877-3
Dieses seit Längerem erwartete Buch ist im Sommer in der englischen Version und jetzt endlich auch in der deutschen Übersetzung erschienen, und es war es wert, darauf zu warten. Die Autorin ist wissenschaftliche Psychologin und lehrt an der London South Bank University. The Memory Illusion ist seit langer Zeit wieder ein Buch zur Gedächtnisverfälschung aus wissenschaftlicher Sicht, und zwar auf neuestem Stand der Forschung. Während die meisten Bücher, die heute zu diesem Thema auf dem Markt sind, sich auf Originalarbeiten aus den 90er Jahren stützen, beruht dieses Buch vor allem auf Arbeiten aus den letzten 10 Jahren und ist damit ein bis zwei Jahrzehnte aktueller.
Das heißt nicht, dass die bisher vorliegende Literatur zu Gedächtnisverfälschung und falschen Erinnerungen überholt oder wertlos wäre, denn die Forschungsergebnisse aus den 90er Jahren konnten im Wesentlichen bestätigt werden. Durch die neueren Forschungen aber ist die Sicht auf falsche Erinnerungen geschärft und zum Teil deutlich radikaler geworden. Es wäre sehr wünschenswert, wenn alle, die mit Erinnerungen und ihrer Zuverlässigkeit zu tun haben, alle die mit Strafjustiz und -ermittlungen zu tun haben, aber auch alle, die sich in sozialen Berufen engagieren und nicht zuletzt alle Pschotherapeuten dieses Buch gründlich zu Kenntnis nehmen könnten. Der generelle Tenor des Buches ist: Das Gedächtnis ist weit weniger zuverlässig, als wir immer geglaubt haben. Doch es reicht nicht, das einfach zur Kenntnis zu nehmen, man muss schon die vielfältigen Möglichkeiten der Gedächtnisverfälschung und der Erzeugung falscher Erinnerungen detailliert lesen, um die Tragweite dieser Tatsache zu erkennen.
Viele Bücher zu psychologischen Themen sind für den normalen Leser schwer zu lesen und oft auf Grund der wissenschaftlichen Sprachwahl kaum oder gar nicht verständlich. Nicht so bei diesem Buch: Es ist das erklärte Ziel der Autorin, auch komplexe Sachverhalte in alltäglicher Sprache auszudrücken, und das ist ihr weitgehend gelungen. Durch das Vermeiden komplexer wissenschaftlicher Erläuterungen kann die Autorin auch ungemein effizient schreiben: Die Menge des Materials ist für ein Buch mit verhältnismäßig bescheidenem Umfang sehr groß.
Im Folgenden eine Auswahl wichtiger Feststellungen, die in diesem Buch stets unter Bezug auf konkrete Forschungsergebnisse getroffen werden:
- Die allgemein bekannte Tatsache, dass Erinnerungen aus früher Kindheit unmöglich sind, wird begründet. Es liegt daran, dass für die Bildung von Langzeiterinnerungen notwendigen Hirnstrukturen (Hippocampus) nocht nicht existieren.
- Jede Erinnerung ist eine physische Veränderung im Gehirn. Jedes Erinnern bedeutet eine erneute Speicherung der Erinnerung. Dabei werden Zusammenhänge mit anderen Gedächtnis- und Gedankeninhalten mit gespeichert, die irgendwann Teil der Erinnerung werden können und diese nachträglich verändern.
- Wir bauen unsere Gedächtnisinhalte niemals nur aus dem auf, was uns unsere Sinne liefern (bottom up). Stattdessen wird immer eine Interpretation des Erlebten abgespeichert, in die eine Vielzahl bereits vorhandener Gedächtnisinhalte eingehen (top down), so dass die Erinnerung sich schon beim ersten Speichern erheblich von dem Erlebnis unterscheiden kann. Trotzdem sind top-down-Strategien unseres Gehirns lebenswichtig, weil nur diese die Möglichkeit schneller Entscheidungen in komplexen Zusammenhängen ermöglichen.
- Unser Verstand füllt Lücken in unserer Erinnerung ohne bewußtes Zutun in einer Weise, die unserem momentanen Bewusstsein entspringt (Konfabulation). Dieser Mechanismus zusammen mit der ständig wiederholten Neuspeicherung führt zum Aufbau falscher Erinnerungen insbesondere dann, wenn ein Sachverhalt uns intensiv beschäftigt.
- Bedeutung und Ablauf eines Ereignisses werden separat gespeichert und können auch separat erinnert werden. Wird nur die Bedeutung abgerufen, so kann der fehlende Ablauf durch eine Konfabulation ersetzt werden. Das bedeutet falsche Erinnerungen.
- Visuelle Information, wie (manipulierte) Fotos, aber auch geführte Vorstellung sind äußerst wirksam zur Erzeugung falscher Erinnerungen. Dabei spielt die Frage, ob die darin vermittelte Information logisch plausibel ist, keine Rolle.
- Lernen im Schlaf funktioniert nicht. Zum Speichern von Erinnerungen gehört notwendig Aufmerksamkeit.
Aufmerksamkeit ist nicht beliebig teilbar oder verteilbar. Multitasking (Smart Phones!) bedeutet keine simultane Aufmerksamkeit auf mehrere Inhalte, sondern ein schnelles Umschalten, das aber auf Kosten der Erinnerungsqualität geht. - Hypnose im Sinne eines eigenen Bewusstseinszustands gibt es nicht. Es handelt sich um eine Form der Suggestion bei tiefer Entspannung, die bei der Erzeugung falscher Erinnerungen sehr wirksam ist. Hypnotisierbarkeit ist gleichbedeutend mit Suggestibilität.
- Erinnerungen an traumatische Ereignisse ist in der Regel sehr gut und robust. Doch auch diese Erinnerungen können verfälscht werden.
- Fasst man visuelle Erinnerungen in Worte, so wird die Erinnerung selbst nachhaltig geschädigt.
- Mitgeteilte Erinnerungen sind ansteckend. Das macht Gruppentherapie so wirksam bei der Erzeugung falscher Erinnerungen. Es führt auch dazu, dass Techniken der Krisenintervention in Gruppen häufig kontraproduktiv sind, weil die Traumata anderer Gruppenmitglieder mit übernommen werden.
- Der Einfluss sozialer Medien führt wegen der Ansteckung durch mitgeteilte Erinnerungen dazu, dass kollektiv erlebte Ereignisse, die normalerweise von einer Vielzahl von Personen ganz unterschiedlich erinnert werden, jetzt gleichgerichtet und gleichförmig werden. Das stellt bei Zeugenbefragungen ein völlig neues Problem dar.
Das Buch ist, wie man sieht, kein spezielles Buch über falsche Erinnerungen an sexuellen Missbrauch, obwohl das Thema ausgiebig zu Sprache kommt. Shaw wendet sich auch scharf gegen den Ausdruck „false memory syndrome“, und zwar aus formalen Gründen. Der Name erwecke den Eindruck einer diagnostizierbaren Krankheit, und das ist sicher ein falscher Eindruck. Es ist bedauerlich, dass sie dabei unerwähnt lässt, dass das Wirken der False Memory Syndrome Foundation — so problematisch deren Name auch gewählt sein mag — ganz wesentlich dafür gewesen ist, dass falsche Erinnerungen erforscht wurden, und dass der Zustand vieler, die in Psychotherapien falsche Erinnerungen entwickelt haben, durchaus wesentliche Symptome einer psychischen Störung aufweist.