Erinnerung ist eine Rekonstruktion
Die Gedächtnisforscher sind sich heute darüber einig, dass jeder Abruf aus dem Gedächtnis, also jede Erinnerung, eine Rekonstruktion der Ereignisse ist, die den Gedächtnisinhalt erzeugt haben. Das Ereignis ist eben nicht klar und unverändert an einer Stelle abgespeichert. Sämtliche gespeicherten Einzelheiten werden bei dieser Rekonstruktion wieder mehr oder weniger vollständig im Arbeitsgedächtnis zusammengerufen. Doch dabei werden die Erinnerungen, wie schon beim ersten Abspeichern, erneut mit anderen Informationen verknüpft.
Erinnerungen sind im Moment des Erinnerns gefährdet
Unerwartet und überraschend ist die Tatsache, dass nach dem Rekonstruieren eines Erinnerungsinhalts und dem Verknüpfen mit anderen Inhalten das Ganze wieder neu abgespeichert wird. Auf diese Weise werden Erinnerungen verändert, und zwar gerade in ursächlichem Zusammenhang mit dem Erinnern.
Die Erinnerung an ein Ereignis hängt nicht nur ab von vor dem Ereignis vorhandenen Informationen – die ja die Filterung bestimmen –, sondern auch von nach dem Ereignis aufgenommenen Informationen. Psychologische Forscher haben das mit sehr einfachen Versuchen zeigen können. Man hat zu diesem Zwecke einer Zahl von Probanden das gleiche Ereignis als Film vorgeführt. Die Probanden mussten dann einige Zeit später wiedergeben, was sie gesehen und gehört hatten. Dabei bekam eine erste Gruppe der Probanden keinerlei Zusatzinformation, eine zweite Gruppe hatte eine bestimmte Zusatzinformation zu Einzelheiten des Ereignisses bereits vor dem Film erhalten, eine dritte Gruppe bekam diese Zusatzinformation erst einige Zeit nach dem Film. Dass die Erinnerung der zweiten Gruppe von der der ersten Gruppe verschieden war, ist verständlich, denn die Zusatzinformation hatte die Aufmerksamkeit auf bestimmte Einzelheiten des Ereignisses gelenkt und so die Filterung der Information mit bestimmt. Interessanterweise war aber auch die Erinnerung in der dritten Gruppe deutlich verschieden von der Erinnerung der ersten Gruppe, obwohl hier die Zusatzinformation bei der Filterung nicht mitwirken konnte, weil sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorhanden war. Demnach waren die vorher bereits abgespeicherten Inhalte nachträglich durch die Zusatzinformation verändert worden.
Die Veränderung der Erinnerung lässt sich auch sehr gut in Versuchen zeigen, in denen Personen, die ein Ereignis erlebt haben, beispielsweise nach einem Tag, dann wieder nach einer Woche, nach einem Monat, nach einem Jahr … über ihre Erinnerung an dieses Ereignis befragt werden. Die Erinnerung der Personen verändert sich fast immer im Lauf der Zeit. Werden die Personen damit konfrontiert, wie ihre Erinnerung zu früherem Zeitpunkt aussah, so sind sie meist völlig konsterniert, weil ihre aktuelle Erinnerung klar und eindeutig ist, und sich trotzdem von der zu früherem Zeitpunkt dokumentierten Erinnerung stark unterscheidet.
Erinnerungsverfälschung
Wie wir gesehen haben, kommen dann, wenn eine Erinnerung abgerufen wird, neue Inhalte hinzu. Andere Inhalte, die beim Abruf weniger wichtig waren, werden vielleicht nicht mit abgerufen und auch nicht wieder abgespeichert. Den ganzen Vorgang nennen die Psychologen Erinnerungsverfälschung. Einige besonders häufige Arten von Erinnerungsverfälschung wurden von Forschern festgestellt. Beispielsweise kann die Information, auf welche Quelle die Erinnerung zurückgeht, verloren gehen oder verändert werden. Häufig betrachten wir Ereignisse, die andere uns erzählt haben oder die wir uns nur vorgestellt haben, als selbst erlebt. Man spricht dann von Quellenverwechselung. Eine andere häufige Art der Erinnerungsverfälschung entsteht, wenn der Sinn der Erinnerung unklar oder scheinbar unlogisch ist. Wir fabulieren dann gerne etwas hinzu, was der Angelegenheit Sinn verleiht, siehe Konfabulationen zur Lösung von Widersprüchen.
Besonders beunruhigend in Hinsicht auf die Zuverlässigkeit von Erinnerungen sind Versuche, in denen Erinnerungen an Ereignisse, die es niemals gegeben hat, künstlich erzeugt wurden. Berühmt ist dazu der Versuch „lost in the mall“ von Elizabeth Loftus und Mitarbeitern, in denen Probanden mit einfachsten Mitteln falsche Erinnerungen eingepflanzt wurden. Diese Ergebnisse wurden vielfach reproduziert. Die erstaunlichsten Ergebnisse werden von Porter und Shaw berichtet, die bei einem hohen Prozentsatz von 60 Versuchspersonen nicht nur stark emotionale Erinnerungen, sondern auch Erinnerungen an eigene kriminelle Handlungen, die es nie gegeben hatte, künstlich erzeugen konnten. In welchem Maße aber unser Gedächtnis unzuverlässig ist, wird auch der Wissenschaft erst langsam klar. Shaw vertritt deshalb sogar den Standunkt, dass jede Erinnerung verfälscht ist, die Frage ist nur, in welchem Maße.
Erinnerungen an Ereignisse, die niemals stattgefunden haben, sind die meist therapeutisch erzeugten falschen Erinnerungen an sexuellen Missbrauch, die zur Gründung von False Memory Deutschland geführt haben.
Vergessen ist wichtig
Es gibt Forscher, die den Vorgang des Vergessens als eine der wichtigsten Leistungen des Gedächtnisses ansehen, und das mit gutem Grund. Wären wir nicht in der Lage, Unwichtiges zu vergessen, so würde unser Gehirn mit Informationen überschwemmt, die für unser Leben und auch für unser Überleben (im Sinne der Darwinschen Evolutionstheorie) irrelevant sind.
Vergessen kann einfach ein Zerfall der Speicherung sein. Daneben gibt es noch einen weiteren Mechanismus, der Erinnerungen unzugänglich machen kann: Der „Schlüssel“ zum Abruf kann verlorengehen. Beispielsweise kann es sein, dass auf die Frage, wer zu der Gruppe gehörte, mit der wir vor einer Woche zusammen waren, uns nur eine unvollständige Namensliste einfällt. Sehen wir aber ein Foto der Gruppe, so fallen uns auch die Namen der übrigen Gruppenmitglieder ein. Die Erinnerung als solche war demnach vorhanden, es fehlte aber der Schlüssel, oder – um die Computeranalogie zu benützen – die Adresse für die Erinnerung. Dieser Mechanismus darf nicht verwechselt werden mit dem Begriff der Verdrängung, der gerade beim Thema „wiedergewonnener“ Missbrauchserinnerungen eine große Rolle spielt.
Literatur zu Erinnern und Vergessen
- Myers: Psychologie, S. 380-428
- Kühnel und Markowitsch: Falsche Erinnerungen
- Schacter: Wir sind Erinnerung
- Loftus: Die therapierte Erinnerung, S. 134-178
- Shaw: Das trügerische Gedächtnis
- Porter und Shaw: Constructing Rich False Memories of Committing Crime, Psychological Science Jan 14, 2015, 1-11