Auf einer Website zu falschen Erinnerungen an sexuellen Missbrauch ist es wichtig, die Fakten zu tatsächlichem Missbrauch zu kennen, denn nur vor diesem Hintergrund ist das Problem der falschen Erinnerungen an Missbrauch richtig zu beurteilen.
Wie häufig ist sexueller Missbrauch tatsächlich?
In den 50er Jahren galt sexueller Missbrauch als ein ziemlich seltenes Phänomen, das vor allem mit dem bösen Onkel mit der Bonbontüte in Verbindung gebracht wurde. Doch heute wissen wir: Die Täter gehören meist der Familie oder dem Freundeskreis der Opfer an.
Die wirkliche Häufigkeit ist international erstaunlich schwer in Erfahrung zu bringen. Die riesige Statistik in den USA erfasst nur gemeldete Fälle ohne Dunkelziffer (Childrens Bureau). In England gibt es zwar eine repräsentative Befragung, die aber auch einvernehmlichen Sex unter Jugendlichen enthält und dadurch verfälscht wird (Lorraine Rad-ford et. al.). In Deutschland gibt es seit 2011 eine gute Repräsentativbefragung, an der über 12000 Personen zwischen 15 und 40 Jahren teilgenommen haben (Stadler/Bieneck/Pfeiffer). Sie kommt zu dem Ergebnis, dass 10% der Frauen und 2% der Männer, demnach 6% der Gesamtbevölkerung sexuellen Missbrauch in der Kindheit erlebt haben. Hochgerechnet auf die Gesamtbevölkerung wären das ca. 5 Mio. Fälle, eine riesige Zahl!
Doch Vorsicht! Alle berichteten Missbrauchsfälle in der eben genannten Studie beruhen auf den Berichten der Missbrauchten. Und alle von den 12000 Personen, die falsche Erinnerungen an sexuellen Missbrauch haben, werden selbstverständlich ebenfalls ihre Pseudoerlebnisse berichten, weil sie davon fest überzeugt sind. Das bedeutet, dass in der genannten Studie die Fälle falscher Erinnerungen enthalten sind. Wir hatten lange Zeit bei False Memory Deutschland angenommen, dass die Zahlen falscher Erinnerungen gering im Vergleich zu den Fällen realen Missbrauchs sind. Doch eine neuere Studie von Patihis und Pendergrast aus den USA lässt hier große Zweifel aufkommen.
In einer Repräsentativbefragung an ca. 2500 Personen hatten die Forscher gefragt, ob die Teilnehmer eine Psychotherapie gehabt hatten und wenn ja, ob in der Psychotherapie ein sexueller Missbrauch entdeckt worden war, der vorher nicht bekannt gewesen war. Das wurde von 5,2% der Befragten (4% repräsentativ gewichtet) bejaht. Die Forscher schreiben von extrapoliert 9,1 Mio Fällen in den USA. Diese Zahl ist ein kumulativer Wert über alle Erwachsenen älter als 20 Jahre und über den gesamten Zeitraum, in dem aufdeckende Therapien stattfanden. Bei diesen Fällen können wir davon ausgehen, dass ein großer Teil dieser angeblichen Missbrauchsfälle auf in der Therapie erzeugten falschen Erinnerungen beruht. Jedenfalls kann es sich nicht um traumatische Ereignisse handeln, denn die Erinnerungen daran bleiben in der Regel erhalten und wären auch bei Therapiebeginn bekannt gewesen
Eine analoge Studie in der französischen Bevölkerung ergab auf die Bevölkerung bezogen einen etwas geringeren Prozentsatz, doch auch dort ist die extrapolierte Zahl der Fälle etwa eine Million. Wieweit man diese Zahlen von den USA und Frankreich auf Deutschland übertragen kann, ist fraglich, aber selbst bei vorsichtigsten Abschätzungen kommt man auf die Größenordnung von 1 Million Fällen. Genaueres wird man in den nächsten Jahren wissen, wenn eine derzeit laufende analoge Studie in mehreren europäischen Ländern, u. A. auch in Deutschland, abgeschlossen sein wird.
Wie traumatisch ist wirklicher Missbrauch?
Viele Psychotherapeuten und weitgehend auch die öffentliche Meinung gehen davon aus, sexueller Missbrauch sei in jedem Fall ein schweres Trauma. Die Forscherin S. Clancy kommt zu anderen Ergebnissen. Clancy befragte Hunderte von tatsächlich missbrauchten Personen, wie sie den Missbrauch zum Zeitpunkt des Geschehens erlebt hatten. Über 90% der befragten hatten den Missbrauch ursprünglich nicht als traumatisch, sondern als ungehörig oder verwirrend erlebt, weil ihnen als Kinder das sexuelle Verständnis fehlte. Nur in weniger als 10% der Fälle war Gewalt im Spiel, und diese Fälle wurden wirklich als traumatisch empfunden. (In guter Übereinstimmung mit den Ergebnissen von Clancy kommt die deutsche Repräsentativbefragung zu dem Ergebnis, dass in 12% der Fälle Gewalt im Spiel war.) Obwohl die Forscherin keinen Zweifel daran lässt, dass sexueller Missbrauch trotzdem in jedem Fall ein schweres Verbrechen ist, wirkten die Forschungsergebnisse von S. Clancy als politisch unerwünscht und als schwere Provokation.
Die Forscherin kommt zu dem Ergebnis, dass die verbreitete Auffassung vom sexuellen Missbrauch „erwachsenenzentriert“ ist. Die wirklich Betroffenen, die Kinder nämlich, wurden dazu nicht befragt. Spätere psychische Schwierigkeiten der Betroffenen haben andere Gründe: Sie fühlen sich von Personen ihres Vertrauens hintergangen und machen sich selbst Vorwürfe, kooperiert oder sich nicht entschlossen gewehrt zu haben.
Clancy stellt fest, dass ihre Ergebnisse keineswegs neu sind. Viele Forscher vor ihr haben das Gleiche festgestellt. Bereits 1998 war eine Arbeit erschienen, die viele Studien zu diesem Thema zusammenfasste (Rind, Tromovitch, Bausermann), und die zu ähnlichen Ergebnissen kam. Diese Arbeit, die wissenschaftlich nicht zu beanstanden ist, erregte riesige öffentliche Empörung (Einzelheiten dazu in McNally, S. 22 ff. und Clancy, S. 182-183). Es kam sogar dazu, dass der amerikanische Kongress diese Arbeit einhellig verdammte, eine unerhörte Einmischung der Politik in wissenschaftliche Belange, die ihresgleichen sucht.
Zusammenfassend kann man feststellen:
- Sexueller Missbrauch ist außerordentlich häufig. In der Bundesrepublik müssen wir mit 5 Millionen Personen mit einer Vergangenheit von sexuellem Missbrauch rechnen.
- Die Auffassung von sexuellem Missbrauch als schweres Trauma ist in der Mehrzahl der Fälle unzutreffend. Diese Feststellung ändert nichts daran, dass sexueller Missbrauch in jedem Fall ein schweres Verbrechen ist.
- Wir müssen davon ausgehen, dass von den in Deutschland berichteten Fällen von sexuellem Missbrauch ein erheblicher und keineswegs vernachlässigbarer Anteil auf therapeutisch erzeugten falschen Erinnerungen beruht.
- Dementsprechend ist anzunehmen, dass von den ca. 12000 Beschuldigungen wegen sexuellem Missbrauch, die den Strafverfolgungsbehörden jährlich bekannt werden, auch ein erheblicher Anteil auf falschen Erinnerungen beruht. Das steht im Einklang mit den Erfahrungsberichten von Aussagegutachtern und kritischen Staatsanwälten (siehe z.B. Zitat Spiegel-Interview).
Literatur zu tatsächlichem Missbrauch
- Childrens Bureau: Child Maltreatment 2011
- Lorraine Radford et. al.: Child abuse and neglect in the UK today
- Stadler/Bieneck/Pfeiffer: Repräsentativbefragung sexueller Missbrauch 2011
- Clancy, Susan: The Trauma Myth
- McNally: Remembering Trauma
- Rind; Tromovitch; Bauserman: A Meta-Analytic Examination of Assumed Properties of Child Sexual Abuse Using College Samples, Psychological Bulletin 124 (1): 22–53