Kriterien, die einen Verdacht auf falsche Erinnerungen begründen
Der Verdacht auf falsche Erinnerungen ist für Außenstehende – im Gegensatz zu Therapierten – relativ leicht zu erkennen. Verdacht auf falsche Erinnerungen besteht immer,
- wenn diese Erinnerungen bis über die Pubertät hinaus nicht vorhanden waren oder nur unbestimmte Gefühle ohne konkrete Ereignisse betrafen,
- wenn bei ihrer Entstehung (meist als Wiederentdeckung bezeichnet) Psychotherapien, Hypnosen, Drogen, suggestive Einflüsse, Gruppendruck oder bestimmte Selbsthilfeliteratur (z. B. Bass u. Davis, Trotz allem) eine wichtige Rolle spielten,
- wenn die Erinnerungen durch aktive Bemühung in vorgegebener Richtung entstanden sind,
- wenn sie sich auf Zeiten der kindlichen Erinnerunglücke erstrecken oder auf „Körpererinnerungen“ beruhen,
- wenn es Erinnerungen an unwahrscheinliche oder unmögliche Ereignisse sind (z. B. Missbrauch in satanischen Ritualen, Missbrauch durch Außerirdische, Erinnerungen an Abtreibung ohne gynäkologischen Befund).
Der Verdacht, dass jemand falsche Erinnerungen an sexuellen Missbrauch entwickelt haben könnte, ist natürlich noch kein Nachweis.
Ein Beispiel für wirklichen sexuellen Missbrauch
In der Berliner Zeitung vom 17.02.2017 wurde über einen Fall von schwerem Missbrauch berichtet. Ein Vater hatte seine Tochter 78-mal missbraucht und dafür eine Haftstrafe von fast 4 Jahren erhalten. Hier handelte es sich um wirklichen sexuellen Missbrauch und eine berechtigte Beschuldigung.
Und jetzt die Unterschiede zu Fällen von falschen Erinnerungen:
- Während bei falschen Erinnerungen die Beschuldigung meist viele Jahre nach den angeblichen Taten erhoben wird, kommt hier die Beschuldigung noch fast in zeitlichem Zusammenhang.
- Während bei falschen Erinnerungen fast immer therapeutische oder andere suggestive Einflüsse bei der Entstehung der Erinnerung Pate stehen, hat hier die Erinnerung niemals in Frage gestanden.
- Während bei falschen Erinnerungen einigermaßen konkrete Vorwürfe erst nach und nach und mit intensiver Bemühung aufzutauchen pflegen, weiß hier die Klägerin jederzeit genau, was geschehen ist und wann.
- Während bei falschen Erinnerungen der Beschuldigte verzweifelt und nachhaltig seine Unschuld betont, sind bei wirklichem Missbrauch wie hier die Täter sehr häufig geständig.
Wie kann der Therapierte falsche Erinnerungen erkennen?
Falsche Erinnerungen sind für die Therapierten selbst sehr viel schwieriger zu erkennen als für Außenstehende. Das liegt in erster Linie daran, dass sie ihrer Struktur nach von Erinnerungen an reale Vorgänge nicht unterschieden werden können.
Am einfachsten ist es, wenn die Therapierten auf Beweise stoßen, dass die erinnerten Ereignisse nicht stattgefunden haben können. Es muss sich aber schon um sehr handfeste und unumstößliche Beweise handeln, weil sie ja für den Therapierten im Widerspruch zu seinen Erinnerungen stehen. Aufgrund ihrer starken emotionalen Belastung sind diese Erinnerungen äußerst dominant. Wenn nur die geringste Möglichkeit existiert, diese Beweise „wegzudiskutieren“, wird der Therapierte seiner Bestätigungsneigung folgen und die Beweise nicht zur Kenntnis nehmen.
Gibt es solche Beweise nicht, so ist es wichtig, nachzuvollziehen, wie die Erinnerungen zustande gekommen sind. Sind konkrete Erinnerungen an Missbrauchsereignisse, um die es hier geht, niemals vergessen gewesen, liegt ihnen wahrscheinlich realer Missbrauch zugrunde. Sind die Erinnerungen zwar vergessen gewesen, aber ohne besondere Bemühung und ohne therapeutischen oder suggestiven Einfluss spontan wiedergekehrt, so gilt wahrscheinlich das Gleiche. Im Übrigen gelten die oben aufgeführten Verdachtskriterien.
Wenn einer dieser Verdachtspunkte erfüllt ist, können Therapierte sich selbst anhand der umfangreichen Literatur zu falschen Erinnerungen Rechenschaft geben, ob sie sich wirklich auf den Realitätsgehalt ihrer Erinnerungen verlassen wollen. Das setzt aber voraus,
- dass die Therapierten willens sind, die Möglichkeit falscher Erinnerungen überhaupt in Erwägung zu ziehen (Bestätigungsneigung),
- dass sie bereit sind, sich mit sehr schmerzhaften Fragen auseinanderzusetzen, denn schmerzhaft ist sowohl der Inhalt der Erinnerungen als auch – wenn diese als falsch erkannt werden – die Auseinandersetzung mit den Folgen und der Verantwortung,
- dass die Therapierten auch intellektuell in der Lage sind, diese Auseinandersetzung mit sich selbst zu führen,
- dass sie sich nicht unter dem fortwährenden Einfluss von Personen (Therapeuten) befinden, die falsche Erinnerungen bestärken.
Leider sind diese Voraussetzungen selten gegeben. Erfahrungsgemäß erkennt nur eine kleine Minderheit derjenigen, die falsche Erinnerungen an sexuellen Missbrauch haben, ihre falschen Erinnerungen als solche (siehe dazu McHugh, Paul R. et. al., siehe unten).
Der Nachweis falscher Erinnerungen ist sehr schwierig oder unmöglich
In der Zeit der memory wars in den USA wurde häufig die Frage gestellt, wie entschieden werden kann, ob eine Erinnerung falsch ist. Die Gedächtniswissenschaftler sind einhellig zu der Auffassung gelangt: Ohne äußere Beweise ist eine Entscheidung unmöglich. Allein der Verdacht reicht nicht aus, und es ist wichtig, sich klar zu machen, dass falsche Erinnerungen genauer gesagt wirkliche Erinnerungen an historisch nicht existente Vorgänge sind (siehe Was ist falsch an falschen Erinnerungen?). Die normale aussagepsychologische Differenzierung zwischen wahren und erfundenen (gelogenen) Berichten anhand von Realitätskennzeichen versagt hier, weil der Betreffende von der Wahrheit seines Berichts überzeugt ist. Aussagepsychologen ziehen in diesen Fällen zur Beurteilung auch Informationen über die Entstehung der Aussage heran.
Wenn der Beschuldigte nicht gerade eine Störung oder Krankheit hat, die sein Gedächtnis betrifft, kann er selbst mit großer Sicherheit wissen, dass die Beschuldigung falsch ist. Die von Traumatherapeuten gelegentlich postulierte Verdrängung oder Abspaltung der Erinnerung beim Beschuldigten würde nämlich voraussetzen, dass sämtliche den angeblichen Missbrauch betreffenden Handlungen spurlos aus seinem Gedächtnis getilgt worden sind. Hätte jemals jemand bei sonst intaktem autobiographischen Gedächtnis für eine Vielzahl von bedeutenden Vorgängen, die sich u. U. über Jahre hingezogen haben sollen, eine Amnesie entwickelt, so wäre das für die Gedächtnispsychologen von höchstem Interesse gewesen. Es wurde aber in 150 Jahren der Gedächtnispsychologie kein einziges Mal beobachtet und ist daher eine ziemlich abenteuerliche Spekulation. Das Wissen des Beschuldigten ist aus Sicht eines Dritten natürlich kein Beweis, denn der hätte ja auch Grund, zu lügen.
Auch hier ist es am einfachsten, wenn gezeigt werden kann, dass die Erinnerung unmöglich ist oder konkret bestätigt werden kann. Zu den Unmöglichkeiten muss man auch die Erinnerungen an Außerirdische zählen. In forensischem Zusammenhang muss man sich meist damit begnügen, dass der Erinnerungsinhalt sehr unwahrscheinlich ist, z.B. bei Erinnerungen an rituell-satanischen Missbrauch oder an Zeiten der kindlichen Erinnerungslücke, oder dass aufgrund der Art der Erinnerungsentstehung erhebliche Zweifel daran bestehen.
Literatur zu Erkennung und Nachweis falscher Erinnerungen
- McHugh, Paul R. et. al.: From Refusal to Reconcilation: Family Relationships After an Accusation Based on Recovered Memories, The Journal of Nervous and Mental Disease, 192/8, 2004, S. 525 – 531)
- R. Volbert: Beurteilung von Aussagen über Traumata, S. 105 – 124
- C. Tavris, E. Aronson: Ich habe Recht, auch wenn ich mich irre, S. 123 – 184
- Max Steller: Nichts als die Wahrheit?