Im Englischen gibt es für Psychotherapien, in denen nach angeblich verdrängten oder abgespaltenen traumatischen Erinnerungen gesucht wird, den Fachausdruck recovered memory therapy. Ein entsprechender Fachausdruck fehlt in der deutschen Sprache. Es gibt zwar den Ausdruck Traumatherapie, aber dieser Ausdruck umfasst auch Therapien, in denen keineswegs versucht wird, unzugängliche Erinnerungen wieder zu beleben. Daher werden wir als Entsprechung zu recovered memory therapy hier den Ausdruck Trauma-Erinnerungstherapie verwenden.
Die Wurzeln bei Sigmund Freud
Schon Sigmund Freud praktizierte in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts eine Trauma-Erinnerungstherapie. Er fand bei allen seinen weiblichen Patienten (unter massivem suggestiven Druck), dass sie von ihren Vätern in ihrer Kindheit missbraucht worden waren und die Erinnerung daran verdrängt hatten. Wobei er Verdrängung nie genau definierte. Er entwickelte damals die Verführungstheorie, die er aber nach nur zwei Jahren fallen ließ, weil er nicht glauben konnte, dass wirklich alle seine Patientinnen missbraucht worden waren. Dass diese Therapie ein Irrweg gewesen war, gab Freud zwar in privaten Briefen zu, aber öffentlich bekannte er sich erst sehr viel später und auch dann nur halbherzig zu diesem Irrtum. (Das Ausmaß der Freudschen Irrtümer blieb allerdings lange Zeit unbekannt, weil die Hüter seiner Archive die entsprechenden Dokumente, insbesondere seine Briefe an seinen Freund Fliess, lange geheim gehalten hatten, um Freuds Ruf nicht zu schädigen.)
Als Ausweg entwickelte Freud daraufhin die Theorie des Ödipus-Komplexes, nach der jedes Kind seinen gleichgeschlechtlichen Elternteil töten möchte, um den gegengeschlechtlichen ganz für sich zu haben. Aus den Berichten seiner Patientinnen über sexuellen Missbrauch in ihrer Kindheit wurden jetzt für Freud ödipale Fantasien seiner Klientinnen. Das Konzept der Verdrängung ins Unterbewusste behielt er aber bei, nur wurden jetzt angeblich diese Fantasien verdrängt.
Ödipus-Komplex und Verdrängung sind Grundkonzepte der Psychoanalyse, die vor allem in den USA bis weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus die dominierende psychotherapeutische Methode war. Das hatte zur Folge, dass Erinnerungen an Missbrauch in der Kindheit in der herrschenden Psychotherapie nicht ernst genommen, sondern als ödipale Fantasien abgetan wurden.
Der Feminismus als Träger der recovered memory-Bewegung
Das führte zu einer massiven Gegenreaktion, die von der feministischen Strömung getragen wurde, und die endlich den missbrauchten Frauen zur Beachtung und zu ihrem Recht verhelfen wollte. Diese Gegenreaktion war sehr stark ideologisch bestimmt. Man besann sich auf die Freudsche Verführungstheorie und belebte sie wieder.
Während der spätere Freud und in seinen Fußstapfen die Psychoanalyse es versäumt hatten, reale Traumata als Ursachen psychischer Störungen in Erwägung zu ziehen, versäumte die feministisch dominierte Psychotherapie in den Fußstapfen des frühen Freud es, reale Traumata von Berichten über Traumata zu unterscheiden. Aus diesem Grund entwickelte sich in den USA die recovered memory therapy, die Trauma-Erinnerungstherapie. Parallel dazu erschienen die multiplen Persönlichkeiten auf der Bildfläche. Das Buch Sybil, das einen ersten spektakulären Fall multipler Persönlichkeit schilderte, wurde ein Bestseller mit einer Auflage von mehreren Millionen, und Verfilmung (Borg-Jacobsen gibt eine Gesamtauflage von 11 Millionen einschließlich der Übersetzungen an!). Es wurde zu einer Initialzündung der gesamten recovered memory-Bewegung. Erst später stellte sich heraus, dass das Buch Sybil aufgrund von Falschdarstellung und zweifelhaften Therapiemethoden – vorsichtig ausgedrückt – keine zuverlässige Quelle war, siehe Entstehung der dissoziativen Identitätsstörung (DIS) und Nathan, Sybil Exposed.
Zeitgenössische Berichte aus der zweiten Hälfte der 80er Jahre in den USA skizzieren diese Zeit als eine der hysterischen Hexenjagd (siehe zum Beispiel in Maran, My Lie). In feministischen und lesbischen Kreisen galt es bald als Grundsatz, dass jede Frau ein Missbrauchsopfer und jeder Vater ein potentieller Täter sei. Trauma-Erinnerungstherapeuten wurden in großen Zahlen in Kursen ausgebildet, die nur wenige Wochenenden dauerten. Es entstand eine Vereinigung von Therapeuten unter dem Namen recovered memory movement.
Drei wichtige Bücher erschienen, die vielfach von Therapeuten zur Unterstützung ihrer Therapien herangezogen wurden: The Courage to Heal von Ellen Bass und Laura Davis (in Deutschland erschienen unter dem Titel: Trotz allem), Secret Survivors von Sue E. Blume und Repressed Memories von Renée Fredrickson. Alle drei Bücher erreichten hohe Auflagezahlen und sind mit verantwortlich für viele zerstörte Familien. Wer sich heute vom Geist der recovered memory-Bewegung, von ihrer Gefährlichkeit und von ihrer Unseriosität einen Begriff machen möchte, dem sei die kritische Lektüre empfohlen.
Gegen viele beschuldigte Eltern wurden Gerichtsverfahren angestrengt. Manche davon kamen auf Grund falscher Erinnerungen ins Gefängnis. Es ist heute noch nicht klar, ob alle diese Fälle irgendwann wieder aufgenommen wurden und ob alle zu Unrecht Verurteilten wieder aus dem Gefängnis entlassen wurden. Nach A. Lipton (1999) wurden mehr als 1800 Klagen erhoben, doch nur zu 736 Fällen liegen ihr genauere Daten vor. 103 davon waren Strafprozesse, die zu 15 Verurteilungen wegen Missbrauchs und 9 Verurteilungen wegen minderer Delikte führten. Der Rest wurde entweder zurückgezogen oder eingestellt. Die zeitliche Verteilung entspricht der untenstehenden Grafik mit zwei Jahren Verzögerung.
Die False Memory Syndrome Foundation und die memory wars
In wenigen Jahren wurden Tausende Eltern zu Unrecht beschuldigt. 1992 wurde die False Memory Syndrome Foundation (FMSF) gegründet, eine Vereinigung von Beschuldigten, die sich gegen die Klagen ihrer Kinder und gegen die recovered memory-Therapie wehrten. Sie fanden schnellen Zulauf, innerhalb weniger Jahre hatte die FMSF viele Tausend Mitglieder. Sie erhielt Unterstützung von einigen hundert „Rückziehern“, Frauen, die sich einer recovered memory-Therapie unterzogen hatten, falsche Erinnerungen entwickelt hatten und schließlich erkannt hatten, dass keine realen Ereignisse zugrunde lagen. Die FMSF konnte sich auch auf die führenden wissenschaftlichen Psychologen und Gedächtnisforscher der USA stützen, die recht einhellig die recovered memory-Therapie als gefährliche Falschtherapie charakterisierten.
Jetzt wurden die Gerichte in der umgekehrten Richtung beansprucht: Rückzieher verklagten ihre Therapeuten. In vielen Fällen wurden die Therapeuten zu horrenden Schadenersatzsummen verurteilt, manchen wurde auch die Therapielizenz entzogen. A. Lipton berichtet von 152 Klagen von Beschuldigten gegen Therapeuten, von denen 2/3 zu einer Verurteilung der Therapeuten führten. Ferner gab es 139 Klagen von Rückziehern gegen ihre Therapeuten. Davon wurden allerdings nur 11 vor Gericht entschieden und führten zu 9 Verurteilungen wegen Falschtherapie. Der weitaus größte Teil dieser Klagen wurde außerhalb des Gerichts durch Schadenersatzzahlungen mit Beträgen bis zu 10 Millionen Dollar geregelt.
Diese Auseinandersetzung ist unter der Bezeichnung memory wars, Gedächtniskriege, in die Geschichte der Psychologie und Psychotherapie eingegangen. Es war ein wirklicher Krieg, der auf beiden Seiten mit unerhörter Härte geführt wurde. Es kam zu Morddrohungen gegen wissenschaftlich arbeitende Psychologen.
Die recovered memory-Bewegung hatte epidemischen Charakter
Im Rückblick lässt sich erkennen, dass die recovered memory-Bewegung den Charakter einer Epidemie hatte: Steiler Anstieg der Fallzahlen bis zu einem Maximum, und dann ein ebenso steiler Abfall. Das Maximum wurde in den Jahren 1991/92 erreicht, die zeitliche Halbwertsbreite betrug nur 5 Jahre! Schon im Jahre 2000 waren die Fallzahlen unter 5% des Maximalwerts gesunken (siehe McHugh, Try to Remember, S. 176-180).
Viele recovered memory-Therapeuten hatten das gleiche erkannt, was seinerzeit Sigmund Freud zur Aufgabe seiner Verführungstheorie brachte.
Dieser rasche Verlauf in den USA ist zu großem Teil auf den entschlossenen Einsatz betroffener Eltern und die klare Positionierung der führenden Wissenschaftler zurückzuführen. Durch vielfach erzeugte Erinnerungen an Entführung und Missbrauch durch Außerirdische und satanische Kulte, von denen nie eine Spur gefunden wurde, untergruben die Anhänger der recovered memory-Bewegung ihre Glaubwürdigkeit.
Diese Mode schien in den USA weitgehend überwunden. Leider hat sich das als Irrtum herausgestellt. Anscheinend wurden in der Studie die jüngeren Fälle nicht richtig erfasst, denn wie neuere Studien zeigen, ist die recovered memory-Therapie nach wie vor in großen Zahlen verbreitet. Aber sie hat auch Europa angesteckt. Da hier die Gegenbewegung weniger geschlossen, der Einsatz der Wissenschaftler weniger engagiert ist, und weil aufgrund eines völlig anderen Rechtssystems ein erfolgreiches gerichtliches Vorgehen gegen Therapeuten sehr viel schwieriger ist als in den USA, ist diese therapeutische Mode in Europa und speziell in Deutschland inzwischen weit verbreitet. Deshalb war die Gründung von False Memory Deutschland im Jahre 2012 notwendig – obwohl aus wissenschaftlicher Sicht ein Anachronismus.
Sind die Gedächtniskriege (memory wars) überwunden?
Mit diesem Thema beschäftigt sich seit längerem ein Forscherteam unter der Leitung von Lawrence Patihis (heute University of Portsmouth).
In Studien aus dem Jahr 2013 stellen sie fest, dass Psychologiestudenten mit großer Mehrheit wissen, dass Erinnerung eine Rekonstruktion ist und dass bei jedem Abruf die Gefahr einer Veränderung gegeben ist. Andererseits aber glaubt auch eine Mehrheit, dass traumatische Erinnerungen häufig verdrängt würden, aber in Therapie exakt wiedergewonnen werden könnten. Dass beides im Widerspruch steht, war ihnen nicht bewusst. Eine zweite Studie an berufstätigen Psychologen zeigte, dass knapp die Hälfte von ihnen an therapeutisch wiedergewonnene Erinnerungen an verdrängte Traumata glaubte, aber dieser Prozentsatz war bei Therapeuten doppelt so hoch wie bei wissenschaftlich Tätigen. Beide Studien zeigen, dass wissenschaftliche Ergebnisse der Gedächtnispsychologie in therapeutischen Fragen unzureichend berücksichtigt werden.
Aus heutiger Sicht ist aber die wichtigste Studie eine aus dem Jahr 2019. Darin wurden in den USA über 2000 repräsentativ ausgewählte Erwachsene befragt. Von diesen berichteten ca. 5%, dass in der Therapie eine Erinnerung an erlebten sexuellen Missbrauch „wiederentdeckt“ worden war, von der die Betreffenden vorher nichts gewusst hatten. Umgerechnet auf die Bevölkerung der USA entspricht das 9 Millionen Fällen!
Eine ähnliche Befragung wurde in Frankreich an über 3000 Teilnehmern durchgeführt. Hier war der entsprechende Prozentsatz mit 2,5% halb so groß wie in den USA, was wohl daran liegt, dass in Frankreich prozentual weniger Personen überhaupt eine Therapie aufnehmen. Eine entsprechende Studie in Deutschland steht noch aus, doch ist kaum zu erwarten, dass bei uns ein erheblich kleinerer Prozentsatz gefunden wird als in Frankreich. In jedem Fall wären es Fallzahlen in Millionenhöhe. Das zeigt, dass das Problem der therapeutisch erzeugten falschen Erinnerungen an sexuellen Missbrauch eine enorme Bedeutung hat. Es ist vollkommen unverständlich, dass es in der offiziellen Politik in Deutschland (durch die Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs) immer noch ignoriert wird.
Literatur zur Entwicklung der Trauma-Erinnerungstherapie
- Paul R. McHugh: Try to Remember
- Paul Simpson: Second Thoughts
- Meredith Maran: My Lie
- Brigitte Axelrad: The Ravages of False Memories
- Anita Lipton: Recovered Memories in the Courts, in: Taub, Sheila (Hrsg.): Recovered memories of child sexual abuse, Springfield, Ill., 1999, ISBN 0-398-07006-7
- L. Patihis et. al.: Are the „Memory Wars“ Over? A Scientist-Practitioner Gap in Beliefs About Repressed Memory. Psychological Science 2014, 25(2), 519-530
- L. Patihis et al.: Reports of Recovered Memories of Abuse in Therapy in a Large Age-Representative U.S. National Sample. Psychological Science 2019, 7(1), 3-21