Der Begriff der Wissenschaftlichkeit ist in der Psychologie nicht eindeutig, weil nicht sämtliche wissenschaftlichen Arbeiten der oben beschriebenen Methodik folgen. Die meisten Psychologen sind nicht in der Experimentalpsychologie tätig, sondern in anderen Fragestellungen, viele davon therapeutisch. Diese werden meist als Kliniker bezeichnet. Natürlich werden auch im klinischen Bereich Beobachtungen gemacht, die für die Wissenschaft wichtig sind. Die oben beschriebenen umständlichen Maßnahmen zur Absicherung der wissenschaftlichen Ergebnisse sind dabei selten möglich. Die Ergebnisse haben häufig anekdotischen Einzelfall-Charakter. Ein Einzelfall ist aber immerhin geeignet, eine Möglichkeits-Hypothese zu belegen. Das ist durchaus eine wissenschaftliche Aussage: Es wurde beobachtet, dass etwas Bestimmtes auftreten kann.
Allerdings ist im klinischen Bereich oft weder sicher, dass das Ergebnis überhaupt eine Folge der untersuchten Maßnahmen oder Bedingungen ist, noch dass die Meinung des betreffenden Therapeuten zu der in Frage stehenden These keinen Einfluss darauf hat. Die allgemein bekannte Bestätigungsneigung kann die Ergebnisse beeinflussen. Besonders problematisch ist es, wenn der betreffende Kliniker zu einem Fall eine bestimmte These als Grundannahme hat. Auf Grund dieser These werden die therapeutischen Methoden gewählt und es ist kaum verwunderlich, dass am Ende als Ergebnis genau die These herauskommt, die der Therapeut vorausgesetzt hat. Das ist ein verbreiteter Zirkelschluss.
Ein für das Thema unserer Website typisches Beispiel soll das erläutern. Jemand geht in eine Psychotherapie und klagt über Depressionen. Der Therapeut geht von der These aus, Depressionen seien meist Folgen eines sexuellen Missbrauchs im Kindesalter. Er bittet seinen Patienten, zu versuchen, diesen Missbrauch in Erinnerung zu rufen. Nach entsprechender Bemühung kommen dem Patienten nach und nach immer mehr Missbrauchserinnerungen. Der Therapeut sieht das als Bestätigung seiner These an. Mit einer methodisch einwandfreien wissenschaftlichen Aussage hat das nicht das Geringste zu tun, wird aber häufig so dargestellt. Siehe dazu Tavris, S. 143ff.
Umgang mit Widersprüchen und Bestätigungsneigung⇒⇐Wissenschaftliche Methodik der Psychologie