Das Opferbewusstsein
In jüngerer Zeit sind verschiedene Bücher und wissenschaftliche Aufsätze erschienen, deren Autoren die Zeiterscheinung untersuchen, dass Trauma und Leiden eine besondere Wertschätzung erfahren, und welche Gründe und Auswirkungen das hat. Einige Veröffentlichungen zu diesem Thema sind unten aufgeführt.
Die Autoren stellen fest, dass sich ein „Opferbewusstsein“ entwickelt hat. Man ernennt sich selbst zum Märtyrer und kann der Aufmerksamkeit seiner Umwelt und des Verständnisses für Schwäche oder Versagen gewiss sein. Man ist als Opfer der Verantwortung für sich selbst weitgehend enthoben. Das Opferbewusstsein wird auch durch die Medien geschürt, die sich durch Berichte über Missbrauch, Vergewaltigung, Unfälle etc. hohe Auflagen und Einschaltquoten sichern.
Doch auch hier lässt sich die Wahrheit nicht mit plakativen Sprüchen erfassen. Fest steht, dass tatsächliche Opfer von Kriegen oder Gewalt jahrzehntelang im Schatten des öffentlichen Bewusstseins standen und ihnen wenig Hilfe zuteil wurde. Fest steht auch, dass als Folge schwerer Traumata psychische Schwierigkeiten entstehen können (nicht müssen!), denen die Psychiatrie in der posttraumatischen Belastungsstörung Rechnung trägt.
Inflation der Trauma-Veröffentlichungen
Fest steht aber auch – rein statistisch – dass wir eine Inflation von Veröffentlichungen zu angeblich traumabedingten Störungen erleben. So hat sich z. B. die jährliche Zahl der Publikationen zum Thema der posttraumatischen Belastungsstörung von 1986 bis 2006, also in zwanzig Jahren, vervierzehnfacht. Ein großer Teil dieser inflationären Entwicklung geht auf das Konto einer unter Therapeuten verbreiteten Umkehrung: Es gibt eine Störung, also muss sich ein Trauma dazu finden lassen. Das ist beispielsweise sehr häufig bei den Symptomen einer Borderlinestörung der Fall, deren diagnostische Kriterien ausschließlich Verhaltensauffälligkeiten aber kein Trauma enthalten. Stoffels erwähnt die These, die Kausalität sei umgekehrt: Nicht das Trauma sei Ursache der Borderlinestörung, sondern diese Störung sei verantwortlich für den Glauben an das Trauma.
In den letzten Jahren ist ein früher noch nicht vorhandener Einfluss auf die öffentliche Diskussion hinzugekommen: die sozialen Medien. Traumafolgen, Opferbewusstsein, sensationelle Verbrechen sind leicht fasslich und jeder hat dazu eine Meinung, die in den sozialen Medien vielfach wiederholt wird. Wissenschaftliche Ergebnisse dagegen sind sperrig und oft für die breite Öffentlichkeit unverständlich. In den sozialen Medien haben sie kaum ein Echo. Dadurch hat sich das Gleichgewicht der öffentlichen Diskussion zu Ungunsten der Wissenschaft verschoben.
Zusammenhang mit falschen Erinnerungen an sexuellen Missbrauch
Hier kommen wir nun auf das Hauptthema unserer Website zurück: Therapeutisch induzierte falsche Erinnerungen an sexuellen Missbrauch. Es gibt spezielle Psychotherapien mit dem Ziel, die Erinnerung an ein Trauma „wiederzuentdecken“. Die englische Bezeichnung dafür ist recovered memory therapy. Im Deutschen haben wir dafür keinen Fachausdruck. Wir werden auf dieser Website den Ausdruck Trauma-Erinnerungstherapie verwenden. Die erwähnte Arbeitsweise, aus Symptomen einen Rückschluss auf das Vorhandensein eines Traumas zu schließen, ist typisch für solche Therapien. Wie vielfältig und unspezifisch die dafür herangezogenen Anzeichen sind, können Sie unter Symptome lesen.
Die Trauma-Erinnerungstherapien entsprechen einem allgemeinen Trend, der in den letzten 20-30 Jahren unsere Gesellschaft entscheidend verändert hat. Sie sind nur ein Teilaspekt eines größeren gesellschaftlichen Zusammenhangs, der allgemeinen Sehnsucht danach, ein Opfer zu sein. Pascal Bruckner sieht sie als Die Krankheit der Moderne an. Die Ziele und die Arbeit von False Memory Deutschland laufen dieser gesellschaftlichen Tendenz zuwider. Das macht es schwierig, die Öffentlichkeit dafür zu sensibilisieren.
Literatur zu Opferbewusstsein und Trauma
- Bruckner, Pascal: Ich leide, also bin ich: Die Krankheit der Moderne, Berlin 1997, ISBN 3-7466-1249-7
- Farrell, Kirby: Post-traumatic Culture, Injury and Interpretation in the Nineties, Baltimore, 1998, ISBN 0-8018-5787-2
- Stoffels, Hans: Das Trauma zwischen Faszinosum und therapeutischer Herausforderung,
in Der Medizinische Sachverständige, 103, 5, 2007