Aufstellen von Hypothesen
Die Experimentalpsychologie ist eine empirische Wissenschaft mit naturwissenschaftlicher Arbeitsweise. Man stellt dabei Hypothesen auf, die ein Modell für das Erleben oder Verhalten von Menschen darstellen. Dann wird versucht, die Gültigkeit dieser Hypothesen je nach Fall zu beweisen oder zu widerlegen. Die im Folgenden beschriebenen wissenschaftlichen Methoden gelten nicht nur für die Psychologie, sondern ganz allgemein.
Allgemeingültige Hypothesen
Hypothesen, die ganz allgemein gelten sollen, sind in allen empirischen Wissenschaften grundsätzlich nicht beweisbar, denn man kann nie ausschließen, dass man morgen einen Fall findet, der der Hypothese widerspricht und einen zwingt, die Hypothese zu ändern. Hypothesen können solange als wahr gelten, wie sie nicht im Widerspruch mit Erfahrungen stehen und es keine einfachere oder wahrscheinlichere Hypothese gibt, die mit der Erfahrung im Einklang steht. Beispielsweise galt in der Physik die Hypothese der Newtonschen Mechanik als einfachste Beschreibung der Erfahrungen solange als wahr, bis eines Tages widersprechende Beobachtungen gefunden wurden, die zur Modifikation der Hypothese durch die Relativitätstheorie zwangen. Wissenschaftliche Relevanz kommt daher nur Hypothesen zu, die grundsätzlich auch widerlegbar sind.
Dogmen, Axiome, Ideologien
Ist eine allgemeingültige Hypothese logisch nicht widerlegbar, so handelt es sich nicht um eine wissenschaftliche Hypothese, sondern um ein Axiom oder Dogma, eine unwiderlegbare Grundannahme. Axiome können als Grundlage von Gedankengebäuden sinnvoll sein, Gegenstand wissenschaftlicher Forschung sind sie nicht. Ideologien sind Systeme von Dogmen, die nicht hinterfragt werden können oder dürfen und damit von Grund auf unwissenschaftlich.
Möglichkeits-Hypothesen
Neben Hypothesen, für die Allgemeingültigkeit angenommen wird, gibt es „kann“-Hypothesen, also Aussagen, für die keine Allgemeingültigkeit gefordert wird, deren Zutreffen aber möglich sein soll. Diese Art von Hypothesen ist nicht widerlegbar, aber sie werden bereits durch einen Einzelfall bewiesen.
Statistische Hypothesen
In medizinischen oder psychologischen Zusammenhängen werden oft Hypothesen aufgestellt, die zwar nicht allgemeingültig sind, die aber für größere Fallzahlen Wahrscheinlichkeitsaussagen machen. Solche Hypothesen können z. B. die Form haben „die Aussage A trifft in den meisten Fällen zu“ oder „die Aussage A trifft in weniger als 10% der Fälle zu“. Solche Hypothesen sind weder streng beweisbar noch streng widerlegbar. Für ihre Gültigkeit lassen sich nur Aussagen machen wie: „Die Hypothese trifft mit 80% Sicherheit zu.“
Forschungen zu solchen Hypothesen sind gekennzeichnet durch eine komplexe Me-thodik, die dazu dient, Fehler zu vermeiden. Es werden grundsätzlich keine Einzelfälle untersucht, sondern immer größere Fallzahlen. Die Versuchspersonen werden so ausgewählt, dass sie in Bezug auf die Hypothese neutral sind. Meist wird der untersuchten Gruppe eine Kontrollgruppe gegenübergestellt, für die die zu untersuchende Bedingung nicht zutrifft, um sicherzustellen, dass die Ergebnisse wirklich auf diese Bedingung zurückzuführen sind. Damit auch die Meinung der Experimentatoren keinen Einfluss haben kann, sorgt man dafür, dass weder die Ausführenden noch die Auswertenden wissen, ob eine Versuchsperson der eigentlichen Versuchsgruppe oder der Kontrollgruppe angehört (Doppelblindversuch). Die Auswertung geschieht mit den Methoden der Statistik und ist für den Laien schwer zu verstehen. Das macht insbesondere die Originalarbeiten zur experimentellen Psychologie, die nahezu ausnahmslos mit diesen Methoden arbeiten, sogar für Fachleute nicht immer leicht auswertbar. Es führt auch dazu, dass oft nicht leicht zu erkennen ist, ob die Methodik wirklich korrekt angewandt wurde. Das öffnet Tür und Tor für nur dem Schein nach wissenschaftliche Untersuchungen.
Einige für falsche Erinnerungen wichtige oder gefährliche Hypothesen
Hypothese: Sexueller Missbrauch wird von Kindern regelmäßig als schweres Trauma erlebt. Verbreitete Hypothese unter Trauma-Erinnerungstherapeuten, die aber widerlegt wurde. In der großen Mehrzahl der Fälle wird sexueller Missbrauch zum Zeitpunkt des Geschehens von Kindern nicht als Trauma erlebt. Das ist nur in einer kleinen Minderheit der Fälle richtig, und zwar dann, wenn Gewalt oder Penetration im Spiel ist.
Siehe: Wie traumatisch ist wirklicher Missbrauch?
Hypothese: Erinnerung an traumatische Erlebnisse wird automatisch verdrängt. Unter Trauma-Erinnerungstherapeuten verbreitete Annahme, die ebenfalls widerlegt wurde. Es gibt genug Fälle, in denen Traumata nicht automatisch verdrängt wurden.
Siehe: Verdrängung
Hypothese: Erinnerung an traumatische Erlebnisse kann verdrängt werden. Auch diese schwächere Formulierung der Verdrängung als Möglichkeits-Hypothese konnte nicht nachgewiesen werden. Es gibt keinen einzigen Fall, in dem Verdrängung, d. h. dem Individuum völlig unzugängliche, aber unverändert vorhandene Erinnerung, nachgewiesen werden konnte.
Siehe: Verdrängung
Hypothese: Erinnerungen sind wahrheitsgetreue Protokolle erlebter Ereignisse. Volkstümliche Auffassung vom Gedächtnis. Die Hypothese ist widerlegt. Gedächtnisinhalte werden weder genau abgespeichert, noch sind sie genau abrufbar. Jeder Abruf einer Erinnerung ist eine Rekonstruktion, bei der immer die Gefahr besteht, dass tatsächliche Erinnerungen mit anderen Gedächtnisinhalten vermischt und so verändert werden.
Siehe: Erinnerungsverfälschung
Hypothese: Erinnerungen haben immer einen wahren Kern. Plausible Hypothese, die aber widerlegt werden kann. Es können ohne große Schwierigkeiten Erinnerungen erzeugt werden, die auf keinerlei reale Ereignisse zurückgehen (siehe Experimentelle Erzeugung falscher Erinnerungen). Bei suggestivem oder imaginativem Einfluss besteht große Gefahr, dass derartige falsche Erinnerungen entstehen.
Hypothese: Flashbacks oder stark emotionale Erinnerungen sind immer Erinnerungen an tatsächliche Ereignisse. Eine Hypothese, die vielfach von Trauma-Erinnerungstherapeuten vertreten wird, die aber widerlegt ist. So konnten bei Kriegsveteranen, aber auch bei Therapieopfern stark emotionale Erinnerungen und Flashbacks nachgewiesen werden, deren Inhalt nachweislich nicht stattgefunden hatte. Auch konnten emotionale Erinnerungen an nicht existierende Ereignisse künstlich erzeugt werden.
Siehe: Emotionen, Flashbacks, Körpererinnerungen
Hypothese: Wer an geringem Selbstwertgefühl, Essstörungen, Ängsten, … (lange Symptomliste, siehe Symptome) … leidet, ist als Kind wahrscheinlich missbraucht worden. Wer diesen Missbrauch leugnet, zeigt damit, dass er die schmerzliche Trauma-Erinnerung vermeiden will, was wiederum auf Missbrauch hinweist. Diese Annahme ist bei Trauma-Erinnerungstherapeuten sehr verbreitet, wobei die Liste der Symptome so lang und vielseitig ist, dass praktisch jeder Mensch sich darauf wiederfindet. Es ist aber überhaupt keine wissenschaftliche Hypothese, denn sie ist logisch nicht widerlegbar. Es werden nämlich alle Fakten, die im Widerspruch zur Grundannahme stehen, zum Beweis dafür umdefiniert. Diese Annahme ist ein Axiom, eine unbeweisbare und unwiderlegbare Grundannahme, siehe oben.
Sollten Ihnen, beispielsweise in einer Psychotherapie oder Lebensberatung, eine oder mehrere dieser allesamt wissenschaftlich widerlegten Hypothesen begegnen, so denken Sie daran, dass es gefährlich ist, diesen Hypothesen zu folgen. Nehmen sie Kontakt mit False Memory Deutschland auf.
Literatur zur wissenschaftlichen Psychologie
- Myers: Psychologie, S. 18-54