Satanistische Gruppierungen
Die Existenz satanischer Gruppen und Sekten ist unbestritten. Ursprünge liegen in Interpretationen der Offenbarung des Johannes, der Satanslegende im apokryphen Buch Henoch, den Satanslegenden im Christentum und Islam sowie in diversen literarischen Werken (Milton, Blake, Goethe, de Sade, Byron, E.T.A. Hoffmann …). Heutige Gruppen fußen u. A. auf dem Buch des Gesetzes von Aleister Crowley oder der Satanischen Bibel von A.S. LaVey. Die Zahl der Gruppen ist groß, die Zahl ihrer Mitglieder meist klein, die Gruppen ständig in Wandlung begriffen. Es werden Riten gepflegt, die oft bewusst blasphemisch mit christlichen Symbolen umgehen oder angeblich magische Bedeutung haben.
Zu unterscheiden ist zwischen dem Satanismus Erwachsener, der sich aus recht wirren philosophischen Quellen speist, und einem Jugendsatanismus, der am besten als eine Protestform spätpubertären Charakters ohne eigentliche weltanschauliche Substanz zu beschreiben ist (Stichworte: Black-Metal, Gothic, schwarze Szene). Die Verbindungen mit rechtsextremem Gedankengut sind allerdings in einigen Fällen nachgewiesen. Dass dieser Jugendsatanismus durchaus gefährlich sein kann, zeigen die Mordfälle von Sondershausen und von Witten, die beide dem Jugendsatanismus zuzuschreiben sind oder sich daraus entwickelt haben. In allen diesen Szenen gibt es keine Hinweise auf sexuellen Missbrauch von Kindern.
Zwei weitere Arten krimineller Gruppen werden immer wieder in diesem Zusammenhang genannt, haben aber mit Satanismus nichts zu tun. Die erste Art sind Kinderporno-Organisationen. Diese Organisationen sind vernetzt, allerdings den Strafverfolgungsbehörden ihrer Struktur und Organisation im Prinzip bekannt. Der Kern ihrer Tätigkeit ist schwerer Kindesmissbrauch zu kommerziellen Zwecken. Die zweite Art sind gefährliche Sekten und von ihnen begangene Morde oder erzwungene Selbstmorde. Beispiele sind die Peoples Temple (mindestens 900 Morde 1978 in Guyana), die Sonnentempler (70 Morde oder Selbstmorde 1994-97 in der Schweiz, Frankreich und Kanada), die AUM-Sekte (12 Morde 1995 in der U-Bahn von Tokio). Doch sind diese furchtbaren Fälle in Wirklichkeit Folgen fundamental-religiöser Anschauungen und kein Satanismus.
Verschwörungstheorien zu satanisch-rituellem Missbrauch
Die bisher beschriebenen und nachweisbaren satanischen bzw. kriminellen Aktivitäten haben keinen Zusammenhang mit falschen Erinnerungen an Kindesmissbrauch. Jedoch mehrten sich im Zuge der recovered memory-Therapien und des massenhaften Auftretens multipler Persönlichkeiten seit Mitte der 80er Jahre in den USA die Fälle, bei denen Therapierte im Laufe der Therapie zunehmend bizarre Beschuldigungen erhoben: Sie erinnerten sich daran, von ganzen Tätergruppen missbraucht worden zu sein. Diese Täter waren angeblich zu weit verzweigten Geheimnetzwerken verbunden, um ihre abartigen und nicht nur sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen. Jugendliche Opfer wurden geschwängert, die Neugeborenen auf einem Altar getötet und kannibalisch verzehrt. Die Opfer wurden hypnotisch „programmiert“, so dass sie nicht in der Lage waren, darüber auszusagen oder sich eher selbst töteten, als darüber zu sprechen. Angeblich waren die Strafverfolgungsbehörden in diese Netzwerke eingebunden, um eine Entdeckung zu verhindern. Es wurden 50000 getötete Kinder pro Jahr genannt. Manche Opfer wurden angeblich lebendig geröstet oder aufgeschnitten und hinterher mit hoher Kunst und geheimen Heilmitteln wieder so hergestellt, dass keine Wunden oder Narben erkennbar waren. Der Fantasie dieser Beschuldigungen waren keine Grenzen gesetzt.
Als auf Grund solcher Behauptungen „Täter“ verklagt wurden, waren die Strafverfolgungsbehörden gezwungen, diesen Behauptungen nachzugehen, und fanden keinerlei Nachweise. Auch das FBI (entsprechend unserem Bundeskriminalamt) ging den Beschuldigungen nach. Das Ergebnis findet sich in dem FBI-Report Satanic Ritual Abuse von Kenneth V. Lanning 1992. Obwohl es Lanning darum geht, Täter zu überführen und nicht zu entlasten, distanziert er sich von den bizarreren Berichten. Die Absurdität der Behauptungen und Berichte über die Entführung durch Außerirdische in gleichem Zusammenhang entzogen den Berichten die Glaubwürdigkeit. Eine Reihe der betreffenden Therapeuten wurden wegen Falschtherapie verurteilt. Siehe dazu historische Entwicklung der Trauma-Erinnerungstherapie.
Behauptungen zum rituell-satanischen Missbrauch in Deutschland
Man könnte das Ganze als einen skurrilen Auswuchs der memory wars in den USA der 80er und 90er Jahre betrachten, der erledigt ist und uns in Deutschland nicht mehr tangiert. Das ist leider nicht richtig. In den USA haben die Prozesse gegen Psychotherapeuten wegen Falschtherapie zu einem Rückschlag für die Verschwörungstheoretiker geführt, doch auch dort sind diese Theorien nicht vom Tisch, weil es Menschen gibt, die überall Verschwörungen wittern.
In England tauchte das Problem schon in den frühen 90er Jahren auf. Dort wurde die Anthropologin Jean La Fontaine von der Regierung mit einer Untersuchung beauftragt. Die 1994 veröffentlichte Studie fand 84 angebliche Fälle, die minutiös recherchiert wurden, wobei aber in keinem einzigen Fall Nachweise für die Behauptungen gefunden wurden. 1998 veröffentlichte sie ihre Ergebnisse in dem Buch Speak of the Devil.
In Deutschland hat es kaum jemals erfolgreiche Prozesse gegen Psychotherapeuten gegeben, was am deutschen Rechtssystem liegt. Die in den USA wirksame Abschreckung ist hier an den Therapeuten vorübergegangen. Es gibt in Deutschland umfangreiche Literatur zu Verschwörungstheorien und zu Satanismus, die von wissenschaftlich-kritisch über pseudowissenschaftlich bis hin zu Spekulationen und nicht objektivierbaren Berichten reicht (z. B. wissenschaftlich: Helmut Reinalter, Die Weltverschwörer; pseudowissenschaftlich: Ulrich Gresch, Unsichtbare Ketten; nicht objektivierbar: Brigitte Bosse, Studie zu ritueller Gewalt in Rheinland-Pfalz). Was aber im Zusammenhang mit falschen Erinnerungen von Bedeutung ist, ist eine beträchtliche Zahl von Psychotherapeuten, die nach wie vor an rituell-satanischen Missbrauch glauben. Sie halten öffentliche und gut besuchte Konferenzen ab, die zum Teil vom Bund finanziert werden. Vieles, was bei solchen Veranstaltungen vorgetragen wird, ist unwissenschaftlich und ideologisch motiviert, doch gibt es einen beliebigen Graubereich zwischen Berichten von realen Missbrauchsfällen und den von Lanning als unmöglich bzw. höchst unwahrscheinlich bezeichneten bizarren Erscheinungen. Es kommt hinzu, dass man ohne eine genaue Analyse nie sicher sein kann, ob sich vielleicht hinter einigen der bizarren Schilderungen reale Missbrauchsfälle verbergen, die durch suggestiven Einfluss verzerrt wurden.
Die meisten Verschwörungstheorien sind unwissenschaftlich
In der eben erwähnten Studie zu ritueller Gewalt in Rheinland-Pfalz von 2007, für die das Trauma-Institut in Mainz (Leitung Dr. Brigitte Bosse) verantwortlich zeichnet, wurden über 1000 niedergelassene Therapeuten nach ihren Erfahrungen mit ritueller Gewalt befragt. Nur 5% der Befragten berichteten über teils erschreckende kriminelle Tätigkeiten auf diesem Sektor, unter anderem 23 Tötungsdelikte, davon 16 zwischen 1992 und 2007, die allerdings in keinem Falle von den Ermittlungsbehörden nachgewiesen werden konnten. Die Studie ist scheinbar wissenschaftlich aufgebaut. Was nicht wissenschaftlich daran ist, ist die Tatsache, dass sämtliche Ergebnisse der Studie ausschließlich auf Berichten der betreffenden Therapeuten beruhen. Nach welchen Kriterien diese Berichte als glaubwürdig eingestuft wurden, verrät die Studie nicht. Dass Therapeuten, die von Verschwörungstheorien und rituell-satanischem Missbrauch überzeugt sind, die Ergebnisse bei ihren Patienten suggestiv erzeugt haben könnten, wird nicht einmal diskutiert.
Die meisten Verschwörungstheorien haben einen grundsätzlich unwissenschaftlichen Charakter. Sie sind so konstruiert, dass jeder Zweifel daran zum Beweis umfunktioniert wird. Wenn man z. B. an ihnen zweifelt, weil kein objektiver Nachweis gefunden wurde, so heißt es, gerade diese Tatsache beweise die Gefährlichkeit, und die Strafverfolgungsbehörden, denen der Nachweis obliegt, seien eben Teil der satanischen Verschwörung. Es handelt sich somit nicht um wissenschaftliche Thesen, die logisch widerlegbar sein müssen, sondern um selbstbestätigende Theorien, also Dogmen, Axiome und Ideologien, die zu akzeptieren eine Frage des Glaubens, nicht eine der Wissenschaft ist.
Wenn jedoch eine Reihe von Selbsthilfe-Büchern für Missbrauchte wie Michaela Huber, Multiple Persönlichkeiten, Marta Schalleck, Rotkäppchens Schweigen, oder gar Ulla Fröhling, Vater unser in der Hölle, die in erheblichen Auflagezahlen auf dem Markt sind, nach wie vor rituell-satanischen Missbrauch in seinen bizarrsten Formen als Realität hinstellen, so sollte gesunder Menschenverstand hinreichen, die Unglaubwürdigkeit und die Ideologie hinter den Behauptungen zu erkennen. Schlimm daran ist ja nicht, dass so etwas geschrieben wird, sondern dass die Autorinnen fest an ihre Behauptungen glauben und bereitstehen, einer neuen Generation unendliches Leid zuzufügen.
Aktuelles aus der Schweiz
In den schweizerischen Medien wird derzeit, ab ca. 2021, intensiv berichtet, dass sich eine „Satanic Panic“, insbesondere in der Schweiz, ausbreitet. Es geht um eine Angst vor ritueller Gewalt, um vermeintlichen satanischen Missbrauch. Es gibt in der Schweiz ein Netzwerk, das an die Verschwörungserzählung „Rituelle Gewalt/Mind Control“ glaubt. Dieses Thema schlägt in der Schweiz einige Wellen und bringt u.a. Schweizer Kliniken in Kritik.
Am 3. Juni 2022 hat deshalb die Swiss Mental Healthcare (SMHC) eine Stellungnahme zu dieser Thematik veröffentlicht. Die SMHC macht darin deutlich, dass sie nach wissenschaftlich fundierten Erkenntnissen arbeitet. Sie weist auf mögliche Nebenwirkungen von Therapien hin, wie z.B. die Entstehung von Scheinerinnerungen, und die damit verbundene Gefahr davon abgeleiteter unsachgemäßer Schuldzuweisungen. Die SMHC lehnt Automatismen ab, die einen Rückschluss von bestimmten Symptomen und Krankheitsbildern auf spezifische auslösende Faktoren beinhalten, besonders alle Interventionen, die suggestiv falsche Erinnerungen hervorrufen. Die SMHC macht ebenso deutlich, dass in der Schweiz bisher kein Fall ritueller Gewalt im Sinne der oben im Schreiben enthaltenen Definition nachgewiesen oder strafrechtlich verurteilt wurde. Die Stellungnahme ist im Internet öffentlich verfügbar.
Literatur zu Satanismus
- Lanning, K.V.: Satanic Ritual Abuse
- Willms, Gerald: Die wunderbare Welt der Sekten, Göttingen 2012, ISBN 978-3-525-56013-6, S. 256-266
- Jean La Fontaine: Speak of the Devil: tales of satanic abuse in contemporary England, Cambridge 1998, ISBN 0-521-62934-9
- Crombag & Merckelbach: Missbrauch vergisst man nicht, S. 224 – 288
- Psychische Traumatisierung durch angebliche „rituelle“ Gewalt – Position der SMHC
- Funkschmidt, Kai: „Rituelle Gewalt“ und „Mind Control“